Über ADHS

•April 15, 2009 • Kommentar verfassen

hyperaktiv

Entwarnung für den Zappelphilipp!

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ADHS, AufmerksamkeitsDefizitHyperaktivitätsSyndrom, – eine Diagnose, die Eltern in Schrecken versetzt und Kindern vielen Unbill eingetragen hat. Doch jetzt kommt aus Amerika beruhigende Kunde…

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Immer gab es Kinder, die an ihrer Umwelt lebhafter Anteil nahmen als andere. Doch je gründlicher diese ihre Umwelt durchorganisiert ist, um so mehr stören sie. Mit andern Worten, Zappelphilipp hat es immer gegeben, aber er fällt in neuerer Zeit mehr auf. Man kann auch sagen, er ist jetzt öfter “auffällig”. Dann sieht es so aus, als läge die Ursache ganz bei ihm und nicht auch bei den immer engeren Maschen der Netze, die uns umfangen halten. Es gibt Berufsgruppen, die haben einen Vorteil von solch einer Sichtweise.
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Auch Eltern haben an Unruhestiftern stets Anstoß genommen, denn daheim war es immer eng. Ruhigstellen! Früher durch Anbinden, neuerdings durch Pillen. Ritalin heißt die beliebteste Kinderdroge, in deutschen Familien fast so verbreitet wie Fruchtzwerge. Es ist auch nicht zu übersehen, dass manche dieser Kinder auch ohne einengende Umgebung ewig aufgekratzt sein würden, keine Ruhe geben und nichts behalten könnten, was ihnen gesagt wird; in einem Maß, dass man sich fragen muss, ob sie wohl “noch normal” sind!
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Aber wer zieht wo die Grenze?
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Als dann die psychiatrische Wissenschaft daran ging, das ‘Syndrom’ in seinen einzelnen Merkmalen exakt zu beschreiben, keimte Hoffnung, nun würde den freihändigen Etikettierungen, dem Wildwuchs der “Therapien” und der zügellosen Medikation ein Ende gesetzt. Die Diagnosen würden fortan sicherer, Chemie bekäme nur noch der, der sie wirklich braucht! Die Marke ADHS sollte Ruhe ins pädagogische Feld bringen.
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Aber das hat natürlich nicht geklappt. Es gibt, wie gesagt, Berufsgruppen, die davon keinen Vorteil hätten. Und es gibt tatsächlich auch Eltern, die lediglich ihre Ruhe haben wollen. Und so half es nichts, dass die “Merkmale” nun exakter definiert waren. Wenn man sie auf den ersten Blick nicht sieht, muss man eben lange genug gucken – dann findet man schon, was man sucht. Es ist nämlich so, dass auch das wahnsinnigste Verhalten immer nur eine Extremvariante einer normalen menschlichen Verhaltensmöglichkeit ist. Sie ist eben nur “zu stark”. Aber “zu” ist nunmal relativ, da hilft auch die präziseste Diagnosetechnik nichts. Es kommt auf die jeweiligen Bedingungen an, die in der theoretischen Formel nicht erfassbar sind.


L'enfant sauvage - Jean-Pierre Cargol .
Die Marke ADHS hat das pädagogische Feld nicht beruhigt, ganz im Gegenteil. Konnte man früher bei gutem Willen die Zappelei als bloße Kinderunart ansehen, die sich schon noch auswachsen würde, so war sie nun mit wissenschaftlicher Autorität zu einem Fall für die Psychiatrie bestimmt. Da konnte guter Wille auch nicht mehr helfen.
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Und auch die Unsicherheit hat nicht ab-, sondern zugenommen. Denn wenn es sich schon um eine krankhafte “Störung” handelt – ist sie dann psychisch bedingt, oder ist es ein Hirnschaden? Ist sie psychisch verursacht, dann müssen Eltern sich fragen: Was haben wir falsch gemacht? Einem Hirnschaden erspart das schlechte Gewissen, aber nicht die bange Frage: Ist er überhaupt therapierbar?
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Das alles ist schlimm genug für die betroffenen Eltern und erst recht für die noch betroffeneren Kinder. Aber es ist noch schlimmer für die Allgemeinheit. Denn es verstärkt die ohnehin unterschwellig schon viel zu weit verbreitete Auffassung, Kindsein sei selber eine Art Schadensfall, der “behandelt” und weggemacht gehört. Denn es gibt, wie gesagt, Berufsgruppen, die einen Vorteil davon haben!
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Und nun kommt aus Amerika Entwarnung. Die
New York Times* berichtet über eine Studie, die dieser Tage das US National Institute of Mental Health gemeinsam mit der McGill University in Montreal vorgelegt hat und deren Ergebnis eindeutig ist: Bei der Merkmalsgruppe, die als ADHS beschrieben wird und bei 3 bis 5 % der Kinder im schulpflichtigen Alter vorgefunden wird, handelt es sich nicht um eine (krankhafte) “Störung”, sondern lediglich um eine (zeitliche) Entwicklungsverzögerung.

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In dieser Studie wurde die Gehirne von 226 Kinder von 6 bis 16 Jahren, denen ADHS diagnostiziert worden war, mit ‘bildgebenden’ Verfahren untersucht, und mit den Befunden eine gleichgroßen, gleichaltrigen, ‘normalen’ Kontrollgruppe verglichen. Entgegen einem lange verbreiteten Irrtum kommt das Gehirn nicht fix und fertig zur Welt. Es bildet während der Kindheit immer neue Zellen namentlich im Neocortex, der gewundenen grauen Hirnrinde, in der unsere bewussten Vermögen angesiedelt sind. Der Neocortex wird dicker. Ab einem bestimmten Zeitpunkt beginnt es aber, einen Teil des Neocortex wieder abzubauen: Er verdünnt sich, um während der Pubertät seine endgültige Dicke zu erreichen.
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Während bei der ‘normalen’ Kontrollgruppe die Hirnrinde im Alter von siebeneinhalb Jahren ihre größte Dicke erreicht hatte und nun mit dem Abbau überflüssig gewordener Zellen begann, lag der Scheitelpunkt bei den ADHS-Kindern erheblich später, nämlich bei zehneinhalb Jahren. Und, wer hätte das gedacht, am auffälligsten war der Unterschied in jenen Stirnregionen, die für die Aufmerksamkeit und für die Kontrolle der Motorik zuständig sind!
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Jedoch abgesehen von der zeitlichen Verzögerung verlief der Entwicklungsprozess des Gehirns in beiden Gruppen funktional und morphologisch vollkommen gleich. Also ist ADHS keine Störung, keine Krankheit, keine Anomalie, sondern lediglich eine Normvariante, die sich ganz von allein auswächst.

L'enfant sauvage - Jean Pierr2 Cargol bis

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Wahr ist freilich auch, dass 80% der ADHS-Patienten mit aufmerksamkeitsstimulierenden Medikamenten behandelt worden war. Das mag geholfen haben, einen schulischen Rückstand zu vermeiden. Es war für den Verlauf der Hirnentwicklung aber ohne jeden Belang! Von ruhigstellenden Mitteln ist in der Studie nicht die Rede. Aber man wird wohl sagen dürfen: Sie mögen den Kindern und ihren Mitmenschen das Zusammenleben erleichtern, wovon beide Seiten etwas haben. Aber ein “Heilmittel” sind sie nicht!
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Und dies hat die Studie – die anscheinend in Deutschland noch nicht zur Kenntnis genommen wurden (?!) – ein für alle Mal gezeigt: Da gibt es nichts zu heilen, weil nichts Krankes da ist.


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* Ausgabe vom 13. 11. 2007 [obiger Text ist, wie Sie sehen, lieber Leser, schon etwas älter.]

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condron.us

Das “Kinderhaus”: Modell einer ‘feldbezogenen’ Sozialarbeit

•Februar 11, 2009 • Kommentar verfassen

Das populärste Schlagwort  der gegenwärtigen Sozialarbeit heißt sozialräumliche Orientierung. Und mancher führt es im Munde, als habe er soeben Amerika entdeckt. Aber es waren  schon ein paar Pioniere vorher da.

In den Jahren 1990-1994 betrieb die Diaphora. Gesellschaft für neue Erziehung mbH das Projekt eines Verbundes von „Kinderhäusern“ in Berlin und Umgebung. Im Sommer 1994 konnte das erste Kinderhaus  – Little Space in der Boxhagener Straße in Friedrichshain – eröffnet werden. Es kam aber wohl zu früh. Schon nach wenigen Monaten musste es Insolvenz anmelden. Vielleicht findet es unter günstigeren Bedingungen einen Nachfolger? Darum hier noch einmal die damalige „Allgemeine Konzeption“


Allgemeine Konzeption für einen Verbund von
Kinderhäusern
im Berliner Raum

aus: Jugendhilfe (Luchterhand) Heft 8/1993

Aufgaben der Sozialarbeit

Das System der sozialen Arbeit ist im Umbruch begriffen. Im Zeichen von Differenzierung – Individualisierung – Pluralisierung kann die Sozialarbeit nicht mehr als normativer Ordnungsfaktor gelten. Sie muß sich als reguläres Dienstleistungsangebot neu definieren. Ihr spezifischer Charakter ist helfende Beratung. Keine Lebensweise ist heute an und für sich richtiger als eine andere. Die Unterscheidung von Notfall und Normalfall gewinnt zusehends wertenden Charakter und läßt sich kaum noch objektivieren. Die Sozialarbeit muß sich von doktrinalen Fragestellungen freimachen und zu einer streng pragmatischen Sichtweise entschließen. Sie bewerkstelligt keine Lösungen, sondern sucht nach Bedingungen, die günstiger sind als andere. Ihr Kriterium ist nicht mehr ‚normal oder unnormal’, sondern nur noch ‚mehr oder weniger’.


Ihre Aufgaben werden dadurch unspezifischer. Der einzelne Sozialarbeiter muß nun, als Fachmann für Alles, ‚mehr können’ als die Spezialisten von gestern, denn er wird sich von Fall zu Fall umstellen müssen. Ebenso unspezifisch müssen die Institutionen der sozialen Arbeit werden. Sind die Maßstäbe für normal und unnormal einmal verloren, werden auch die Differentialdiagnosen über ‚Störungsart’ und ‚Abweichungsgrad’ hinfällig. Die Einrichtungen können sich nicht mehr selber typologisieren und klassifizieren, indem sie ihre Klientel nach ‚Merkmalen’ sortieren; sondern die Nutzer selbst definieren den Charakter des Angebots durch die Art und Weise, wie sie davon Gebrauch machen. Das heißt: Welches die ‚geeignete Behandlung’ ist, muß sich im Prozeß helfender Beratung selbst erweisen können. Das reduziert die Fehlgriffe und ist vom menschlichen und vom fiskalischen Standpunkt aus sparsamer.


Namentlich die Unterscheidung zwischen ‚weicher’ Jugendhilfe (Prävention, ‚Förderung’) und ‚harter’ Jugendhilfe (Intervention, ‚Hilfe zur Erziehung’) sowie zwischen stationären und ambulanten Diensten muß überwunden werden durch allgemeine, d.h. umfassende Angebote, die grundsätzlich allen möglichen Nutzern und Bedarfslagen offenstehen. ‚Hohe Schwellen’, die das Eingeständnis eigner Mangelhaftigkeit zur Bedingung für die Gewährung von Hilfe machen, schrecken ab und müssen zur (je zu begründenden) Ausnahme werden: Hilfe ist umso wirksamer, je zeitiger sie in Anspruch genommen wird. Aus haushälterischer Sicht müssen niedrige Schwellen und kurze Wege zur Regel der neuen Sozialarbeit werden.


Wer helfende Beratung in Anspruch nimmt, definiert sich nicht ipso facto als defizitär. Das moderne Leben hat bis in die privatesten Winkel seine Selbstverständlichkeit verloren und fordert immer wieder scharfe Wendungen. Krisen sind nicht Symptome von Devianz, sondern Bestandteil des Normalen. Nicht der Ratsuchende ist problematisch, sondern der, der keine Hilfe mehr zu finden hofft. Ihm muß die soziale Arbeit sich anbieten, indem sie im ‚Feld’ Zeichen setzt.


Vor allem die Formen des persönlichen Zusammenlebens haben aufgehört, selbstverständlich zu sein. Einst verdankte die Familie ihre Selbstverständlichkeit dem Umstand, daß sie als Versorgungsbetrieb für den Einzelnen unersetzlich war. Doch ihre hauswirtschaftliche Bedeutung ist ihr durch öffentliche wie kommerzielle Dienstleister nach und nach abgenommen worden, ebenso wie ihre sozialisatorischen Aufgaben. Privates Zusammenleben verengt sich seither immer mehr auf die bloße Beziehungsebene. Die Folge ist eine Informalisierung der Verhaltensmuster, alles muß immer wieder neu ausgehandelt werden. An die Stelle der Ökonomie ist Psychoökonomik getreten. Wechselseitige Glückserwartungen wuchern und belasten die intimsten Bereiche mit dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung, so dass es den Einander-Angehörigen immer seltener gelingt, Nähe und Distanz in ein zuträgliches Verhältnis zu bringen. (Die auffällige Zunahme der sog. „Kernstörungen“ in der psychotherapeutischen Klinik hängt damit zusammen.) Die modernen Familienbildungen sind ihrem Wesen nach störanfällig, und was vormals als Hort der Geborgenheit einen Gegenpol zur öffentlichen Konkurrenz bildete, erscheint heute als der eigentlich riskante Teil des Lebens.


Kinder sind für ihre Eltern heute wichtiger als je zuvor. Sie kommen schon mit gewaltigen Erwartungen beladen zur Welt und müssen im System gegenseitiger Zuwendungsansprüche oft die Vermittlerrolle übernehmen, und gegebenenfalls den (mehrfachen) ‚Delegierten’ spielen. Das lebensgeschichtlich unumgängliche ‚Drama von Trennung und Versöhnung im Jugendalter’ (H. Stierlin) nimmt unter solchen Voraussetzungen immer häufiger katastrophische Formen an. Es entsteht eine ‚Ausreißerkultur’ mit Querverbindungen zur kriminellen und Drogenszene, deren Existenz eine weitere Bedrohung für den Bestand der Familien ist.


Die Pubertät, als der kritische Lebensabschnitt par excellence, wird dabei in der Öffentlichkeit heute bezeichnenderweise vor allem als eine „Lücke“ wahrgenommen. Lausbubenstreiche, die einst selbstverständlich waren, werden nun als Gewaltbereitschaft und Bandenwesen skandalisiert und diskriminiert.


Es handelt sich um eine langfristige zivilisatorische Entwicklung in allen modernen Gesellschaften. Unerwartet zugespitzt erscheint sie im Osten Deutschlands in der Folge des sozialen und kulturellen Umbruchs durch die Wiedervereinigung. Dort hatte die Quasi-Monopolisierung aller Versorgungsfunktionen durch den Staat und seine ‚gesellschaftlichen Organisationen den Einzelnen von der Verantwortung für seine Lebensführung weitgehend enteignet. Die Familie überlebte als eine Nische, die – im doppelten Sinn – von den „Beziehungen“ zusammengehalten wurde; nicht aber durch ein gemeinsames Lebensrisiko. Mit dem unvorbereiteten Einbruch materieller Unsicherheit beim Übergang in die Marktwirtschaft wird nun keineswegs die Selbstverständlichkeit der (klein-) bürgerlichen Zellen-Familie restauriert, sondern werden im Gegenteil die familialen Beziehungen einer zusätzlichen Zerreißprobe ausgesetzt. Der spektakuläre Rückgang der Ehescheidungen ist dabei eher ein Zeichen von Vorsicht als von Zuversicht und könnte sich als Zeitbombe erweisen.


Im Westen Deutschlands stellen sich die Sozialarbeiter nach und nach, tastend und manchmal unentschlossen, auf ihre neuen Aufgaben ein; die Neubestimmung ist noch nicht an ihrem Ziel, aber schon im Gang. Im Osten des Landes muß dagegen das System der sozialen Arbeit neu aufgebaut werden. Eine bloße Anpassung an das westliche Ist-Niveau würde einerseits den dortigen Erfordernissen schon nicht mehr gerecht, und könnte andererseits den Innovationsprozeß im Westen nur hemmen. Im Osten besteht die Chance und die Notwendigkeit, Sozialarbeit von vornherein als öffentliches Dienstleistungssystem einzurichten, und zwar sowohl durch eine entsprechende Ausbildung der Professionellen als durch die Implementierung von Modelleinrichtungen. So könnte die Sozialarbeit im Osten Deutschlands zur Schrittmacherin des fälligen Modernisierungsschubs im ganzen Land werden.


Das Kinderhaus I: Die Außenansicht

Das Projekt Kinderhaus ist eine allgemeine Antwort auf eine allgemeine zivilisatorische Krisenerscheinung. Es stellt eine soziale Gemeinschaftseinrichtung neuen Typs dar, die eines Tages ebenso selbstverständlich sein wird wie heute die Kindertagesstätte.
Es soll sein:


ein umfassendes Angebot im sozialen Feld;
eine naheliegende Ressource bei der Regulierung familiärer Krisen, und
eine ausgezeichnete Statt zur Bewältigung eines riskanten Lebensabschnitts.

Kinderheime gelten herkömmlich als sonderpädagogische Erziehungswerkstätten. Sie sollen Defizite ‚im’ Kind oder ‚in’ seiner Familie kompensieren und einen erwünschten Sollzustand (wieder-) herstellen. Sie bedürfen dazu eines besonders ‚geschützten’ Milieus. Heimerziehung gilt als Sozio- oder gar Psychotherapie.


In der Wirklichkeit hat sich auch das Institut Kinderheim längst zu einer regulären öffentlichen Dienstleistung entwickelt. Unbeschadet von offiziellen therapeutischen Diskursen ist die Population der deutschen Kinderheime heute nicht nennenswert ‚gestörter’ als der Durchschnitt der anderen Kinder. In Schlagworten wie ‚Normalisierung’ und ‚Öffnung nach außen’ wird dem zunehmend Rechnung getragen. Es reicht allerdings nicht, nur die Wörter zu ändern, die über die Heimerziehung gesagt werden. Irgendwann müssen auch die sachlichen Bedingungen geschaffen werden, die in den Heimen ‚normales Leben’ möglich machen. Die Heime müssen, nach innen wie nach außen, offen werden; denn ‚normal’ ist heute der Unterschied, nicht die Schablone.


Als naheliegende Ressource zur Entschärfung familiärer Krisen – niedrige Schwellen, kurze Wege – soll in den städtischen Wohngebieten Berlins ein Verbund von Kinder-häusern eingerichtet werden.

Die Kinderhäuser sollen ihre möglichen Nutzer nicht abschrecken, sondern einladen.

Sie sollen im ‚Feld’ ein Zeichen setzen.


Damit ist ihre innere Verfassung präjudiziert – negativ. Enge, verregelte und komplizierte Strukturen laden nicht ein, sondern schrecken ab, ihre Botschaft lautet: „Ihr könnt alle kommen – sofern ihr euch fügt.“ Und dann wird nur der kommen wollen, der es „nötig hat“ – weil ihm nichts anders übrigbleibt. So aber wären die Kinderhäuser auch nur Notbehelf und unvermeidliches Übel: eine sonderpädagogische Nische wie das herkömmliche Kinderheim; aber nicht der öffentliche Ort, der es als naheliegende Ressource sein müßte.


Öffnung nach außen setzt voraus: Offenheit im Innern. Die innere Struktur des Kinderhauses muß zugleich weit und fest genug sein, um die Zufuhr neuer Elemente von außen zu verkraften und als Bereicherung statt als Störung aufzunehmen. Sie muß ihrerseits informell, d.h. unmittelbarer Ausdruck des Lebensgefühls seiner Bewohner sein, um jederzeit improvisieren zu können. Sie muß flexibel sein, und das ist sie nur, wenn sie einfach ist.

Es wird nicht ausbleiben, daß ein großes Haus, in dem viele Kinder ein geselliges Leben führen, zum Attraktionspol für die Kinder der ganzen Umgebung wird. In größeren und kleineren Trauben werden sie am Hauseingang herumlungern. Man wird sie nicht vertreiben können, also muß man sie hereinlassen. Die jugendlichen Bewohner des Kinderhauses sollen ihre Freunde mit nach oben bringen können, wie es in den städtischen Wohnquartieren eben üblich ist. Daß jeder Bewohner über sein eigenes Zimmer verfügen kann, ist eine Bedingung dafür. Eine hinreichende Ausstattung der Gemeinschaftsräume ist die andere.


Das Kinderhaus wird nicht nur Wohnstatt, sondern zugleich auch informeller Treffpunkt und Drehscheibe für die Kindergesellschaft des Viertels sein. Es setzt im Feld das Zeichen, daß die Flegeljahre keine „Lücke“ sind, sondern ein Lebensabschnitt so ehrenwert wie die andern.


Dabei wird der offene Bereich nicht räumlich oder personell vom inneren Wohnbereich getrennt; der Grad der Öffnung nach außen wird je nach dem Rhythmus des häuslichen Lebens neu auszumakeln sein. Das ist seinerseits nur möglich, wenn den Bewohnern im Innern ein Privatraum garantiert wird, in dem sie vor den Ansprüchen der Andern geschützt sind.


In dem Maß, wie das Kinderhaus für die Kinder und die Familien des Viertels zu einem vertrauten, weil gastlichen Ort wird, entwickelt es sich zu einem Stützpunkt für eine nicht-formalisierte Familien-Sozialarbeit, bzw. stadtteilbezogene Familienhilfe. Bedarf an helfender Beratung muß nun nicht von den Beratern selber ausgespäht und ‚erfaßt’ werden, sondern kann ‚sich zeigen’ im Verlauf einer alltäglichen Kontaktaufnahme im geselligen Verkehr, zu dem es einlädt.


Aus fachlichen Gründen ist es nicht ratsam, daß das Kinderhaus diese ins ‚Feld’ hinausgreifende Sozialarbeit in eigner Regie durchführt. Es wird sich beizeiten auf die Rolle einer Anlaufstelle zurückziehen. Direkt beim Träger werden Sozialarbeiter mit neuer, polyvalenter Qualifikation angestellt, die ohne Rcksicht auf die Belegungsrate des Kinderhauses in eigener Verantwortung diejenige Form von helfender Beratung entwickeln, die der jeweiligen Situation entspricht. Sie sollen zwischen dem Kinderhaus und seinem Umfeld vermitteln; aber keine „Zuarbeit“ leisten.


Solange noch ein oder zwei Kinderhäuser isoliert in der Landschaft stehen, werden sie wohl Neugier erregen; aber jenen Grad an Vertrautheit, dessen eine dauerhafte Ausstrahlung ins ‚Feld’ bedarf, werden sie erst als Repräsentanten eines neuen Typus von sozialer Gemeinschaftseinrichtung erreichen können. Es wird daher zügig der Aufbau eines Verbundsystems von etwa einem halben Dutzend Kinderhäusern im Berliner Raum betrieben. Während der Aufbauphase des Verbundes werden die einzelnen Kinderhäuser ihre Rolle in den Gemeinwesen erst noch unvollkommen spielen können. Pragmatische Zwischenlösungen werden sich nicht immer vermeiden lassen.

Zur Offenheit der Kinderhäuser gehört schließlich, daß Kinder hier nicht nur Kindern begegnen können, sondern auch Erwachsenen; und zwar, wie es ja normal wäre, auch solchen, die ihnen nicht mit beruflichen Absichten entgegentreten. Erwachsene, die gelegentlich ihre Zeit mit Kindern verbringen wollen, weil sie daran Gefallen haben, sind dort willkommen. Das trägt zur Entpädagogisierung der Alltagsatmosphäre bei, selbst wenn es anläßlich von an sich ‚zweckmäßigen’ Verrichtungen geschieht, wie z.B. der Schulaufgabenhilfe: Dabei haben sich pädagogische Amateure bislang stets besser bewährt als die Profis.


Das Kinderhaus II: Die Innenansicht


Als öffentliches Dienstleistungsangebot in einer pluralistischen Kultur kann das Kinderhaus nicht besondere Lebensent würfe als die ‚richtigen’ verbindlich machen wollen. Menschenbilder und Erziehungsziele gehören nicht zu seinem Pensum.

Erziehung ist, wo sie gelingt, eine Leistung der Heranwachsenden selbst, und besteht im wesentlichen darin, sich aus gegebenen Bedingungen selbst heraus zu finden. Berufsmäßige Pädagogik ist daher keine lineare Verkettung von Ursachen und Wirkungen, sondern lediglich die Gestaltung eines Bedingungsgefüges. „Erziehung meint hier nichts anderes als den alltäglichen Umgang.“ (Hans Hermann Groothoff) Das ‚pädagogische Verhältnis’ jedoch „im engeren und eigentlichen Sinn ereignet sich und ist möglich und nötig nur von Fall zu Fall“. Es ist kein Zustand, der sich herbeiführen läßt, sondern ein Glück, das sich manchmal einstellt, wenn günstige Bedingungen gegeben sind. Es ist personale Begegnung und darum nicht operationalisierbar. (Die Plethora des pädagogischen Personals zählt zu den einengenden Bedingungen.)


Wie jeder Haushalt, ist das Kinderhaus sowohl Versorgungsbetrieb als auch Stätte persönlichen Lebens. Es vereinigt unter seinem Dach eine sachliche (Leistungs-) Dimension mit einer leidenschaftlichen (Ausdrucks-) Dimension. Im Unterschied zu den weitgehend auf die Beziehungsebene geschrumpften familialen Kleinsthaushalten unserer Tage kann es aber, als großer Haushalt, beide Ebenen scheiden und gesondert darstellen. Es begründet damit einen Spiel-Raum, in dem seine Bewohner Nähe und Distanz jeweils neu ausbalancieren können. Es stellt insofern einen grundsätzlich heilsamen Ort dar, denn es ermöglicht ein Unterbrechen beginnender Chronizisierung und bietet die Chance zu einem Neuanfang. Die Wirksamkeit weitergehender therapeutischer Eingriffe beruht auf der Möglichkeit solch einstweiliger Abstandnahme von „den Andern“, von der bisherigen Lebensgeschichte und von sich selbst.


Der ‚äußeren’ Aufgabe eines jeden, Nähe und Distanz ins Verhältnis zu setzen, korrespondiert die ‚innere’ Aufgabe, die regressiven mit den progressiven Persönlichkeitsanteilen abzustimmen, wenn anders ‚Spaltung’ und ‚Rückzug aus der Welt’ vermieden werden sollen. Diese Abstimmung ist besonders durch die heftigen Progressions-Schübe der Pubertät gefährdet; zumal in einem Erziehungssystem, das kindlichen Unfug als pathologisches Symptom verfolgt.


Progression geschieht als Weltbezug, Leistung und Verkehr. Regression bedeutet Selbstbezug, ‚Ausdruck’ und Intimität. Der Raum der einen heißt Gesellschaft, der der anderen Gemeinschaft. Als leistungsbezogener großer Haushalt hat das Kinderhaus eine gesellschaftliche Dimension, die allen erlaubt, miteinander verkehren zu können, ohne einander nahetreten zu müssen. Als Stätte personalen Lebens bietet es Raum für die Bildung von Gemeinschaften, in denen die, die sich nahestehen, beieinander sein können.


Verordnete Nähe ist pathogen. Das Kinderhaus gibt seinen Bewohnern keine Gruppenstrukturen vor, in die sie sich fügen sollen. Kinder können die Gemeinschaften, deren Intimität sie suchen, alleine und ohne das Dazwischentreten eines erwachsenen Bezugsvirtuosen bilden. Ihre spontanen Gruppenbildungen tragen wahlverwandtschaftlichen, „bruderschaftlichen“ Charakter und sind, als personale Begegnung im freien Spiel von Trennen und Verbinden, wesentlich informell; sie überschneiden einander („Geflecht“, L. Krappmann) und lassen sich nicht sondern und ‚verfassen’. Ein zuständiger Betreuer kann ihnen daher nicht beigeordnet werden.

Das Kinderhaus erkennt erstmals die erzieherische Bedeutung der Kinderfreundschaften ausdrücklich an und macht sie zum Bestandteil seiner inneren Verfassung.


Soll Nähe gewählt werden können, muß zuerst Distanz möglich sein. Einem jeden muß sein persönliches Rückzugsgebiet garantiert sein. Wie jedes Kind ein „Recht auf sein Geheimnis“ hat (Janusz Korczak), so hat es ein Recht auf Alleinsein. Jedes Kind hat ein Recht auf seine eigenen vier Wände und auf die Tür, die es hinter sich zumachen kann.

Die Kinder werden im Kinderhaus in Einzelzimmern wohnen.

Soll Nähe gewählt werden können, muß eine Auswahl möglich sein. Es müssen genügend Menschen anwesend sein.


Soll Nähe gewählt werden können, muß man die andern kennen. Es dürfen nicht zu viele Menschen anwesend sein, weil sonst der Überblick verloren geht.


In jedem Kinderhaus soll Raum für etwa zwanzig Kinder sein.


Auch unter den erwachsenen Haushaltsangehörigen sollen die Kinder diejenigen auswählen können, deren Nähe sie wünschen; doch nicht nur unter jenen. Die Öffnung des Kinderhauses für pädagogische Laien dient auch diesem Ziel.


Im Übrigen wird es im Kinderhaus keine Unterscheidung zwischen pädagogischem und hauswirtschaftlichem Personal geben. Für ‚Beziehungen’ sind alle gleichermaßen zuständig.


Andere ‚Srukturen’ – Zeitpläne, Aufgabenverteilung, räumliche Gliederung – , als die sich aus den Erfordernissen des Haushaltes augenfällig von selbst ergeben, hat der Alltag des Kinderhauses nicht nötig. Sein Rahmen ist weit und fest, weil er einfach ist. Es bedarf daher keiner erklügelten Hausordnung. Die Regeln des täglichen Verkehrs können sich auf den ‚gesellschaftlichen’ Leistungsbereich beschränken und in ständiger Übung „von selbst ergeben“.


Der selbstregulierenden Dynamik freier Geselligkeit wird zuerst eine Chance gegeben, damit normative Interventionen der erwachsenen Professionellen im Grenzfall als Ausnahmen die Regel bestätigen können. Dabei ist es notwendig, die private und die öffentliche Sphäre des Lebens im Kinderhaus so voneinander zu scheiden, daß Verkehrsstörungen und öffentliche Geltungsprobleme nicht die persönlichen Beziehungen ergreifen, und daß persönliche Konflikte nicht zum öffentlichen Thema werden müssen. Was öffentlich ist, wird nicht privatisiert, und was privat ist, nicht veröffentlicht. Jeder soll jederzeit aus dem einen Bereich in den andern ausweichen können. Die Informalisierung der Gruppenstrukturen führt in das Anstaltsleben eine Instanz „negativer Rückkoppelung“ (Norbert Wiener) ein und erlaubt, daß ein Großteil der Alltagskonflikte ‚sich von allein regeln’ können – ohne Eingriff einer überlegenen fachlichen Intelligenz.


Nicht dem Erreichen gesetzter Erziehungsziele und der ‚Arbeit am Kind’ gilt das Hauptaugenmerk der professionellen Pädagogen im Kinderhaus, sondern der Qualität des Zusammenlebens selbst. Letztere ist nicht die Resultante von soundsoviel individuellen ‚Behandlungsplänen’, sondern eine Realität sui generis. Als „Raumklima“ ist sie unmittelbarer Ausdruck des Lebensgefühls seiner Bewohner. Es bildet die Zuversicht der Kinder ab, daß sie sich-selbst herausfinden werden aus den Bedingungen, die ihnen dort gegeben sind. Finden sie diese Zuversicht, dann wird es ihnen auch gelingen. Die Bedingungen so anzuordnen, daß die Zuversicht wachsen kann, ist die eigentliche Leistung des Pädagogen.


Dadurch ändert sich, verglichen mit herkömmlichen Erziehungsanstalten, seine Stellung im Alltag des Kinderhauses. Er ist hier nicht in erster Linie Funktionär einer gefaßten pädagogischen Absicht, sondern unmittelbar: Teilnehmer. Er unterscheidet sich von anderen durch seine persönlichen Eigenschaften, von denen er jeweils ‚mehr’ oder ‚weniger’ hat als jene, und daß er in allen Bereichen – auf der sachlichen Versorgungs-, wie auf der persönlichen Beziehungsebene und im Austausch mit dem gesellschaftlichen Umfeld – größere Verantwortung übernimmt als die Kinder, verdankt sich dem biographischen Umstand, daß er erwachsen ist; nicht aber einer besonderen professionellen Fertigkeit. Von den Kindern unterscheidet er sich nur noch graduell, nicht mehr funktional.

Die spezifisch professionelle, weil absichtsvolle Seite seiner Tätigkeit (=„Arbeit“) findet nicht im alltäglichen Umgang statt; dieser ist vielmehr unmittelbar und persönlich. Sondern findet statt in den dienstlichen Sitzungen außerhalb des Alltags. Deren fachliche Aufgabe besteht nicht in der (positiven) Ausarbeitung pädagogischer Handlungsstrategien, sondern in der (kritischen) Reflexion auf die pädagogischen Haltungen einerseits, und in der – stets neuen – Einsicht in die Sozio- und Psychodynamik des geselligen Prozesses andererseits. Dort werden nicht praktische Anweisungen formuliert, sondern werden die Maßstäbe der Pragmatik prüfend gesichert. Die Dienstbesprechung ist ihrem Sinn nach Instanz der Selbstkontrolle. Sie ist nicht Teil des Alltags, sondern sein Spiegel.


Denn der Auftrag des Pädagogen ist paradoxal. Er soll sein Erwerbsleben so führen, ‚als ob’ es sein Privatleben sei. Zugleich soll er die Trennbarkeit von Öffentlichem und Privatem garantieren, damit Nähe und Distanz wählbar bleiben. Er soll über die Scheidung von ‚Objektebene’ und ‚Beziehungsebene’ wachen, aber sein ‚Objekt’ ist selber eine ‚Beziehung’. Sein Berufsalltag ist ein Drahtseilakt zwischen Authentizität und Simulation und hat wesentlich artistischen Charakter. Wie jeder Künstler bedarf er der fachmännischen Kritik; deren Forum ist die Dienstbesprechung. Und darum soll er in der Regel nicht allein ‚Dienst tun’, sondern stets einen Mitartisten zur Seite haben, der ihm bei seiner Darbietung zusieht.


Da er von berufswegen ein Doppelleben führt, bedarf er selber helfender Beratung. Die regelmäßige Präsenz externer Fachbeobachter – Psychiater, Soziologen, Systemberater… – dient der Supervision, nicht der Praxisanleitung. Was er ‚tun soll’, muß (und kann nur) der Pädagoge in jedem Moment selber wissen. Dazu braucht er einen freien Kopf, und den verschafft ihm allein regelmäßige ‚Reinigung’ durch Selbstreflexion – außerhalb des Berufsalltags.


Maßstab der Selbstreflexion ist, für die Einzelnen wie für die ‚Institution’, vorliegende Konzeption sowie die „Kleine Erziehlehre“. Einmal jährlich wird eine Gesamtbilanz gezogen. Der Leiter der Einrichtung verantwortet die Gültigkeit vorliegender Konzeption nach innen und außen. Im Übrigen schafft der Verbund eine dauerhafte, fachlich qualifizierte Öffentlichkeit, die die Verbindlichkeit der Maßstäbe garantiert.


Die im Kinderhaus angestellten Erwachsenen teilen und verantworten gleichrangig das Leben der ihnen anvertrauten Kinder in allen seinen Bereichen. Haushaltsführung, ‚Beziehungsarbeit’ und Austausch mit dem Umfeld (Nachbarschaft, Schule, Behörden) sind dabei gleichermaßen ‚wichtig’ und gleichermaßen ‚pädagogisch’. (Sie teilen und verantworten nicht allein. Doch das Wirken anderer Interventen im ‚Feld’ geht ein in die Bedingungen ihres Handelns und verkürzt nicht ihre Verantwortung; Verantwortung ist kein teilbarer Kuchen.)


In der Haushaltsführung lassen sich zwei Aufgaben spezifizieren, die ein besonderes handwerkliches Können verlangen: Die Gestaltung der gemeinsamen Mahlzeiten und die Ausgestaltung des Wohnraums. Beide gehen unmittelbar ein in die Qualität des Zusammenlebens. Küchenchef und Hausmeister sind kein techni-sches Hilfspersonal, sondern zusätzlich qualifizierte Professionelle.


Auch die angestellten Erwachsenen – und gerade sie – sollen den ihnen zuträglichen Grad von Nähe und Distanz jeweils selbst wählen können; vor allem zu ihren Kollegen. Aus berufshygienischen Gründen ist es daher im allgemeinen nicht ratsam, daß die Angestellten ebenfalls, wie die Kinder, im Kinderhaus wohnen; wenn es auch ‚eigentlich’ logisch erschiene… Es muß genügen, wenn lediglich der Leiter dort seine Wohnung nimmt.

Im Rahmen des Verbundes wird es möglich sein, daß die pädagogischen Mitarbeiter aus dem Kinderhaus in die Feld-Arbeit überwechseln.


Feld-Arbeit


Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung wird nach § 27 KJHG durch die Tatsache begründet, daß „eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist“. Zu einer Ergründung von Ursachen („Ätiologie“) und zu einer diagnostischen Wertung (etwa: „gefährdet oder geschädigt“) ist nach Geist und Buchstab des neuen Gesetzes niemand mehr aufgerufen. Ist jene Tatsache einmal festgestellt, überprüft das Jugendamt im Hinblick auf eine mögliche Übernahme der Kosten, ob eine angebotene Hilfe „geeignet und notwendig“ ist.

Wenn ein Kind und seine Familie entschlossen sind, sich voneinander zu trennen, so ist in der Regel davon auszugehen, daß eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung zum gegebenen Zeitpunkt nicht (mehr) gewährleistet ist. Das Kinderhaus bietet Hilfe in grundsätzlich allen Fällen an, wo ein Kind aus dem einen oder andern Grunde nicht mehr im Haushalt seiner Eltern wohnen kann oder will und nicht wesentlich jünger als zehn, aber auch nicht älter als vierzehn Jahre ist. Diese pragmatische Indikation reicht als Aufnahmebedingung aus. Ob und welche zusätzlichen Hilfsangebote angezeigt sind, wird sich im Verlauf des Aufenthalts im Kinderhaus selbst erweisen.


Ob eine Unterbringung in einem fremden Haushalt notwendig wird (i. S. v. § 34 KJHG), hängt davon ab, „wie ernst“ es dem Kind und der Familie mit ihrem Trennungswunsch ist. Diese Frage ist jedoch nicht durch gutachtlichen Sachverstand zu entscheiden, sondern wiederum nur pragmatisch: durch Erprobung. Ausreißen und Verstoßung sind Gesten, die oft ihr Gegenteil bedeuten sollen. Darüber können sich die Beteiligten nicht durch Introspektion Gewißheit verschaffen, sondern indem sie zur Tat schreiten. Dann steht eine Trennung nicht am Schluß, sondern am Beginn eines Prozesses von helfender Beratung (und kann entsprechend kurz gehalten werden). Das Kinderhaus übernimmt so die Aufgaben eines Kindernotdienstes und leistet einen Beitrag zur Zivilisierung der ‚Ausreißerkultur’ (Stierlin).


Wenigstens vier von je zwanzig Zimmern sollen daher für kurzfristige und Notaufnahmen bereitstehen.


Die Frage, ob ein Hilfsangebot im gegebenen Fall „geeignet“ ist oder nicht, wird von den beteiligten helfenden Beratern je nach ihrer eigenen beruflichen Perspektive oft unterschiedlich beantwortet. ‚Objektive’ Antworten sind in diesem Bereich nicht möglich; man kann nur versuchen, bekannte Fehlerquellen auszuschließen. Die mittlerweile üblichen Fallkonferenzen dienen diesem Zweck.


Fallkonferenzen, bei denen nur Vertreter von helfenden und verwaltenden Institutionen das Wort haben, laufen Gefahr, deren eigene Interessen stärker zu gewichten, als dem je individuellen ‚Fall’ zuträglich ist. (Das gilt für das geldgebende Jugendamt ebenso wie für ein unterm Belegungsdruck ächzendes Kinderheim und eine überforderte Schule.) Es ist nötig, in den Entscheidungsfindungsprozeß frühzeitig Fachleute einzuführen, die am Ausgang jenes Prozesses kein eigenes berufliches Interesse haben, weil ihre Arbeitsstelle nicht einzelnen ‚Fällen’ und deren ‚Lösung’ zugeordnet ist, sondern, dem ‚ganzen Feld’.

Direkt beim Träger des Kinderhausverbundes werden darum Sozialarbeiter angestellt, deren Tätigkeit nicht auf die einzelnen Kinderhäuser, sondern auf die jeweiligen Wohnquartiere bezogen ist und in sich Merkmale des Streetworkers, des Familienhelfers und der klassischen Familienfürsorge mit denen eines Heimberaters vereinigt. Sie sollen im Vorfeld des Kinderhauses informellen Kontakt zu den möglichen Nutzern aufnehmen und das Kind und seine Familie mit den vorhandenen Hilfs-Ressourcen bekannt machen. Es obliegt dabei ihrem eigenen fachlichen Urteil, zu welcher Hilfsmöglichkeit sie den Nachfragern raten – und, wenn sie dafür Gründe sehen, von der einen oder andern Möglichkeit abzuraten. Ihre Aufgabe gegenüber den Einrichtungen der Sozialarbeit ist nicht die des Zuträgers, sondern die eines Vermittlers zwischen Nutzern und Anbietern; insofern beraten sie beide Seiten.


Hat sich ein Kind zum Einzug in das Kinderhaus entschlossen, haben die polyvalenten ‚Feldarbeiter’ die Aufnahme vorzubereiten, den ‚Fall’ gegenüber dem Jugendamt zu vertreten und während des ganzen Aufenthalts des Kindes im Kinderhaus für dessen regelmäßigen Verkehr mit seiner Familie zu sorgen und, wenn sie es als nötig erachten, weitergehende therapeutische Eingriffe (Systemberatung o.ä.) in die Wege zu leiten. (Wo Eingriffe in die ‚Tiefen’ der kindlichen Persönlichkeit angezeigt sind, ist es die Trennung von der Familie in der Regel nicht, und umgekehrt.) Sie handeln den Kontrakt zwischen Kinderhaus und Familie aus (z.B. die voraussichtliche Aufenthaltsdauer betreffend, Familienkonferenzen usw.) und wachen – als Vertragspartner – über dessen Einhaltung. Sie sorgen für turnusmäßige Fallkonferenzen und regen, wenn es soweit ist, die Rückkehr des Kindes nach Hause an und beraten die Familie nach ihrer Wiedervereinigung.


Im Rahmen des Verbundes wird es möglich sein, daß Feld-Arbeiter in die Kinderhäuser überwechseln.


Bewohnern des Kinderhauses, die mit fünfzehn, sechzehn Jahren der Kindergesellschaft entwachsen sind, soll der Übergang in selbständigere Wohnformen – WGs, betreutes Wohnen u.a. – ermöglicht werden, sofern sie aus dem einen oder andern Grund nicht in den Haushalt ihrer Familie zurückkehren können oder wollen. Diese ‚Nachbetreuung’ zählt zu den vornehmsten Aufgaben der Feldarbeiter. Sie haben die erforderlichen Nachfolgeeinrichtungen gegebenenfalls selber zu initiieren.


In dem Maße, wie das Kinderhaus als reguläre Dienstleistung ins Bewußtsein der Öffentlichkeit dringt, wird der Erstkontakt zwischen Kinderhaus und Nutzern teils im Kinderhaus selbst, teils durch die Feldarbeiter hergestellt. Während der Aufbauphase des Verbundes, solange erst ein oder zwei Kinderhäuser isoliert im Raum stehen, wird dieser Kontakt, wie in einem herkömmlichen Kinderheim, durch die Jugendämter vermittelt werden müssen. Das Kinderhaus wird die Arbeit mit den Familien, die Fallkonferenzen und weiterführende therapeutische Leistungen in dieser Phase aus eignen Mitteln veranstalten. Dabei ist es sich der Versuchung bewußt, in die eigne Tasche zu wirtschaften, und ist von Anbeginn bestrebt, jene Aufgabe an Professionelle abzutreten, deren berufliche Existenz von der Belegungsrate des Kinderhauses unabhängig ist.

Diaphora. Gesellschaft für neue Erziehung mbH (gemeinnützig)
Geschäftsführer Jochen Ebmeier

NB: Aufgrund der voranstehenden Konzeption erteilte die Berliner Senatsjugendverwaltung im Mai 1994 die Betriebsgenehmigung für das Kinderhaus Little space in der Boxhagener Straße in Friedrichshain. Leider mußte es schon im Winter wieder schließen.

Eine Steinzeit-Technologie?

•Februar 6, 2009 • Kommentar verfassen

Die Sozialarbeit vor ihrer Dritten industriellen Revolution

Kästchendenken …

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In der industriellen Fertigung ist es seit Jahren eine Binsenweisheit: Von ei­nem bestimmten Stand der technologischen Entwicklung an schlägt die Arbeitstei­lung um aus einem Antrieb in ein Hemmnis der Produktivität. In dem nach seinem ersten Theoretiker, dem amerikanischen Ingenieur F. W. Taylor benannten System der mechanisierten Fabrik galt es, alle Arbeitsgänge in kleine, einfache Sequenzen zu zergliedern und auf routinierte Spezialisten zu verteilen. Für die Abstimmung der atomisierten Teilarbeiten aufeinander sorgte die höhereIntelligenz der Geschäftsleitung. Aus den Montagehallen Henry Fords nahm Taylors System seinen Siegeszug durch die Welt.


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Doch eines Tags war der Punkt erreicht, wo die Zeitersparnis, die man durch gezielte Perfektionierung voneinander isolierter Arbeitsgänge erreichen konnte, wieder wett-gemacht wurde durch die sinkende Anteilnahme des Arbeiters an seinem Werk: Die Diskussion um die Humanisierung der Arbeitswelt zielte auf Seiten der Industrie von Anbeginn auf Steigerung der Produktivität durch erneuerte Arbeitsfreude. Von einem bestimmten Grad der Qualifikation an ist es nämlich, menschlich gesprochen, unver-meidlich, daß die Arbeitskräfte auch gewisse kulturelle Ansprüche an ihre Tätigkeit entwickeln. Man kann das eine nicht ohne das andere haben.

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…und Tonnenideologie

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Der parzellierten Organisationsform des Arbeitsvorgangs entsprach freilich eine bestimmte Art des Produkts: Das Taylor-System gehört zu einer Massenproduktion, die auf eine gewisse Anzahl verhältnismäßig einfacher Durch- schnittsbedürf- nisse berechnet ist; wobei die Qualität dann standardisiert werden kann. Kästchendenken und Tonnenideologie liegen nah beieinander – wenn nämlich ein Experte der indifferenten Masse ‘Bevölkerung’ nach Maßgabe seiner Kapazitäten ‘Bedürfnisse’ zurechnet, die er dann planmäßig “abdeckt”. Da der Experte den Markt immer nur über den Daumen anpeilen kann, werden in diesem industriellen System tote Kosten in Gestalt von brachliegenden Ressourcen und Produktion auf Halde nicht ausbleiben.

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In einer Gesellschaft, die durch Individualisierung, Differenzierung und Pluralisierung gekennzeichnet ist, nimmt diese Vergeudung überhand, denn die Nachfrage individualisiert sich mit den Lebensstilen. Namentlich Hersteller sehr teurer Produkte – Autos z. B. – müssen Formen industrieller Fertigung entwickeln, die unmittelbar auf spezifische Nachfragen reagieren können, wenn (und  wo) sie ’sich zeigen’ – um nicht einen Teil der Ressourcen auf Verdacht in Vorratslagern brachlegen zu müssen.

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the Human factor

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Das macht die Wiedereinführung der menschlichen Intelligenz in den Produktionsvorgang erforderlich. In der

Taylor-Fabrik war die produktive Einbildungskraft des lebendigen Arbeitsvermögens lediglich eine virtuelle Fehlerquelle, die möglichst auszuschalten war: Auf perfekt routinierte  Handlungsabläufe reduziert, war die Arbeitskraft zu einem Subsystem der Maschine geworden. Nun sollen die brachliegenden humanen Reserven mobilisiert werden ; der mitdenkende Arbeiter, dessen Entscheidungskompetenz gefordert ist, soll den Produktionsap­parat flexibler machen.

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Nach einem mißlungenem Anlauf in Schweden (Volvo) in den siebziger Jahren hatte das neue System in den Achtzigern in Japan (Toyota) seinen Durchbruch und ist, über Amerika, inzwischen auch in die deutsche Automobilindustrie eingekehrt.

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‘Funktionsintegration’ durch Gruppenarbeit heißt das neue Stichwort, statt Spezialistentum ist Polyvalenz gefordert: Der eine soll an die Stelle des andern treten können. Wobei ‘Rotation’ nicht etwa das Ende der Arbeitsteilung bedeutet, sondern deren Höhepunkt: Eine umfassend qualifizierte Equipe verteilt die Aufgaben in eigner Verantwortung jedesmal neu, pragmatisch und je nach Lage der Dinge. Und ebenso pragmatisch kooperieren die Equipen auch horizontal miteinander, ohne zeitraubenden Instanzenweg. Die Informationen fließen direkt, ohne unnötige Redundanz, ‘Rauschen’ und Übertragungsverluste. ‘Flache Hierarchien’ – und am besten gar keine – sind Folge und Bedingung einer solchen Arbeitsorganisation.

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Doch was in der industriellen Fertigung, wo man es mit toten Stoffen zu tun hat, schon selbstverständlich ist, ist es ausgerechnet in der Sozialarbeit, alias Helfende Beratung, wo man doch mit lebenden Menschen zu tun hat, noch lange nicht. – Paradox?

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Daß die spezialisierten Dienste, daß die ‘zuständigen’ Ämter und Abteilungen ei­fersüchtig über ihre geschützten Jagdgründe wachen und darüber, daß ja kein Loch in die Wände ihrer fachlichen Schubläden gebohrt wird – ist es absurd? Lauscht man den Klängen aus den Brüos der Jugendbehörden, so “muß das so sein”. Es sei nämlich die natürliche Folge des KJHG, welches in soundsoviel Paragraphen soundsoviel Bedarfe definiert, indem es soundsoviele Leistungen aufzählt, die ihnen entsprechen – und vor allem soundsoviel Töpfe schafft, aus denen das Geld kommt. Folgt aus dieser gesetzlichen Prämisse der Jugendhilfe ihre Parzellierung in ebensoviele spezialisierte ‘Dienste’ mit sachlicher Notwendigkeit?

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Landnahme

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Mitnichten. Zuerst waren nämlich die vielen Dienste da, nicht die gesetzlichen Definitionen. Unterm Dach eines längst obsoleten JWG war ein institutioneller Wildwuchs ins Kraut geschossen, der keiner irgend professionellen Idee gehorchte, sondern lediglich dem Gesetz des geringsten Widerstands: Wo immer der wuchernde Berufsstand der Helfenden Berater eine “Lücke” im System der (bezeichnenderweise so genannten) “psychosozialen Versorgung” erspähte, da sickerten sie ein, “deckten” sie “ab” und verteidigten die neugewonnene Parzelle mit Klauen und Nägeln gegen eine nimmermüde Konkurrenz.[1] Das Kästchendenken ist ein Produkt des Aneignungsprozesses. Die Paragraphen des KJHG sanktionierten dann nur noch den Status quo von 1990; sie beschreiben einen (dagewesenen) Zustand, aber begründen tun sie nichts.

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Die junge Standesgeschichte der Sozialarbeit/Sozialpädagogik ist die Geschichte einer Landnahme, und die äußert sich treffend in einer herrschaftlichen Metaphorik.Ihre Kampflosung heißt “Defizit”.

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Das ist eine verschämte Sekundärbildung zu ‘Defekt’, von lat. deficere, und beide bedeuten, daß “etwas fehlt”. Doch daß etwas fehlt, kann nur der aussagen, der weiß, was ‘eigentlich’ alles da sein müßte; einer, der es besser weiß (und besser kann) als andere. Das Eroberungs- und Besitzstandswahrungs-Motiv der Professionellen reproduziert täglich neu eine hoheitlich-normative Fachlogik der Sozialen Arbeit, die “eigentlich” längst erledigt war. Was Ausnahme ist und was Regel, wer kann es noch sagen? Es ist gar keine Frage der richtigen Lehre mehr, sondern eine praktische Evidenz: Selbst wenn sie es wollte, die Sozialarbeit kann gar nicht mehr normativ sein – weil die verbindlichen Normen fehlen. Nichts ist mehr selbstverständlich.  Was der Einzelne soll, ist problematisch geworden. Und wird erstmal das Sollen zweifelhaft, ist bald auch das… Sein nicht mehr ganz faßbar.

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sich-selbst heraus-finden

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Es muß nun jeder sehen, wo er bleibt. Die gesellschaftlichen Institutionen ent­lasten ihn weiterhin – beim Gehen, aber nicht mehr von der Wahl seines Weges. Wohin er soll, muß jeder selbst herausfinden. Dabei ist die Lage, in der er steckt, unübersichtlicher denn je. Mit den ehrwürdigen Ordnungen sind auch die Orientierungsmarken geschwunden. Anything goes – woran soll man sich da noch halten? Was wichtig ist und was nebensächlich, verschwimmt in Gleich-Gültigkeit. Die Situation, in der sich einer befindet, mag ihm da leicht als ein Knoten vorkommen, in den er so fest verstrickt ist, daß er sich nicht mehr von Andern unterscheiden kann.

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Daß einer allein nicht mehr zurechtkommt, ist in einer solchen Welt kein Defizit mehr, sondern gehört selber zur Norm. Helfende Beratung ist eine reguläre Dienstleistung geworden, die jeder früher oder später mal in Anspruch nimmt – in diesem Lebensbereich oder in einem andern. Rechtsberatung, Steuerberatung, Schönheitsberatung, Gesundheitsberatung, Anlageberatung – und Beratung in Fragen der privaten Lebensführung.

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Damit ist der gesellschaftliche Platz der Sozialarbeit radikal neu definiert. Nicht mehr Fürsorge, Anleitung und Versorgung im defizitären Ausnahmefall; nicht Wiederanpassung an eine materiale Norm: So und so sollst du es machen. Sondern helfende Beratung als reguläre Dienstleistung, denn die Norm ist heute nur noch formal: daß sich jeder selbst zurechtfindet. Die “schweren” Fälle unterscheiden sich in solcher Perspektive von den banalen nur noch graduell, nicht kategorial. Die Übergänge sind gleitend, klassifikatorische Rubriken verlieren ihren praktischen Sinn, denn jeder ‘Fall’ ist nunmehr singulär: Welches sein rechter Weg ist, kann keiner wissen als der Ratsuchende selbst. Er muß sich-selbst heraus-finden aus dem mehr oder minder festen Knoten, in dem er steckt. Wo er lang soll, kann kein Wegweiser ihm zeigen, er muß finden, indem er geht. Auch das schönste Ziel frommt nicht einem Jeden. “Eines schickt sich nicht für alle, schaue jeder, wie er’s treibe. Schaue jeder, wo er bleibe – und wer steht, daß er nicht falle”: Denn nicht jeder ist dem Weg gewachsen, der zu seinem Ziel führt.

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Der helfende Berater hat vor allem einen Vorteil: Er steckt nicht selber in dem Knoten drin, sondern kann ihn von außen betrachten. Er hat Abstand und Übersicht. Seine Fachausbildung hat seinen Blick geschärft und er nimmt Möglichkeiten wahr, die dem Ratsuchenden verborgen sind wie der Wald von Bäumen. Er kann ihm Ausgänge zeigen und ihm Mut machen, daß er finden wird, wenn er sucht. Sich selbst herausfinden in dem Doppelsinn, daß er einen Ausweg sieht – und daß er unterwegs sich selbst antrifft als einen, der seinem Knoten zwar ‘angehört’, der aber auch herauskann: weil er will.

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Diagnostische Begriffe, die dazu dienen, Populationen nach Fallmerkmalen zu sortieren, haben keinen praktischen Zweck mehr. Die Streitfrage, wie weit sie theoretisch gerechtfertigt sind, erledigt sich damit. Selbst in der Medizin ist ja der Begriff der Gesundheit (alias Normalität) nur negativ gefaßt als Abwesenheit von Krankheit: wenn die Funktionen der physischen Organisation ungestört verlaufen. Plausibel ist er auch dem Nichtfachmann, als Leben ohne Beschwerden. Im Bereich des psychischen Befindens fehlen solche Selbstverständlichkeiten. In der bürgerlichen Welt ist das Leben zu einer Aufgabe geworden; also beschwerlich seinem Wesen nach (nicht nur, aber immer auch). Worin die Aufgabe besteht – was er ’soll’ -, muß indessen jeder selbst herausfinden, siehe oben.

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Diagnosen?

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Diagnostische Kategorien haben da nur noch heuristischen, erkenntnisleitenden, doch keinen konstitutiven, erkenntnisstiftenden Wert. Sie sind ein Hilfsmittel, ein Geländer, an dem sich der Betrachter ins Durcheinander der individuellen Problemlagen vorantastet. Steht er erst mittendrin, kann er loslassen und mit seinen eigenen Augen sehen. Auf wahre Begriffe kommt es ihm nicht an, nur auf gangbare Wege. Er denkt pragmatisch, nicht doktrinal, und von seinen Deutungen weiß er: Alles kann auch anders sein.

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Das sind Binsenweisheiten, die kaum noch wer ausdrücklich bestreitet. Warum sie also wiederholen?

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Weil der diagnostische Sprach- und Denkduktus unter den Praktikern der Sozialarbeit einfach nicht totzukriegen ist. Denn die Wörter, die über die Sozialarbeit gesagt werden mögen, sind willfährig und Schall und Rauch, wenn die sachlichen Voraussetzungen ihrer täglichen Praxis ihnen nicht entsprechen. Für die Praktiker sind ihre sachlichen Voraussetzungen die Institutionen, die sie beschäftigen: die Plethora der um ihren Marktanteil konkurrierenden ‘Dienste’. Wenn aber der Ausgangspunkt der professionellen Reflexion der einzelne ‘Dienst’ und seine spezifische Leistung ist, dann verschwimmen die ratsuchenden Individuen Perspektivisch zum Abstraktum ‘Klientel’, das anhand allgemeiner Merkmale erst noch bestimmten Gesetzen (Begriffen, Typen, ‘Störungen’…) als deren jeweilige ‘Fälle’ zugeordnet werden muß. Die grammatische Unsitte, die weibliche clientela zum unpersönlichen Neutrum ‘das Klientel’ umzutaufen, entlarvt die ganze Logik, die den fachlichen Bestimmungsgrund der Sozialarbeit in der Selbstdefinition der Dienste ansetzt, statt im persönlichen Problem des jeweiligen Nutzers. Der diagnostische Denkstil ist unausrottbar, weil er dazu dient, den konkurrierenden Diensten die Kundschaft zuzuweisen – nicht zu viel und nicht zu wenig… ‘Das Klientel’ ist ein Kuchen, den es aufzuteilen gilt, und darum kann er nie groß genug sein.

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Generalistik

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Eine Sozialarbeit, die Berater und nicht mehr Wegweiser sein will, hat es nicht mit Fällen, sondern mit Personen zu tun. Wenn der Berater an dem einen etwas findet, was ihm bei einem andern auch schon auffiel, mag ihm das zur Orientie­rung dienen. Es charakterisiert dann sein eignes Nachdenken; doch nicht den Ratsuchenden. Denn der ist nicht für ihn, sondern er für jenen da. Bestimmungsgrund der Beratung sind nicht der Ratgeber und seine Begriffe, sondern der Ratsuchende und sein Problem, und die sind singulär. Sozialarbeit ist eine zusätzliche Ressource, die den Menschen bei der Bewältigung ihrer Lebensaufgaben zur Verfügung steht. Art und Weise der Hilfe wird bestimmt durch den Gebrauch, den der Ratsuchende von ihr.

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Die Aufgaben des Sozialarbeiters präsentieren sich dadurch unspezifischer. Er weiß jetzt nicht mehr im Vorhinein, was da auf ihn zukommt. Er weiß nichtmal, ob er ihm gewachsen sein wird. Er steht in einem ‘Feld’ und wartet auf die Nachfrage – die ’sich zeigen’ muß, ehe er sie erkennen kann. Und dann muß er sich ihr stellen; das heißt: sich auf sie einstellen. Also statt das ‘Feld’ nach allgemeinen Begriffen zu sortieren und aufs besondere Profil der jeweiligen Dienste zu verteilen, “läßt er sie alle kommen” und berät sie so lange, wie er kann. Wenn er dann auch nicht mehr weiter weiß, läßt er sich selbst beraten, oder er rät. Schlimmstenfalls läßt er einen andern ran, vielleicht sogar einen Spezialisten…

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Die Sozialarbeiter müssen wieder zu waghalsigen Generalisten werden, wie sie es in den Anfängen ihres Berufs waren. [2] Als umfassend qualifizierte Professionelle können sie das Spezialistentum überwinden und ihre Arbeitsteilung auf eine höhere Stufe stellen – als wechselnde Aufgabenverteilung von Fall zu Fall innerhalb einer eigenverantwortlichen Equipe. Daß das “nicht geht”, ist freilich ein verbreitetes Vorurteil – und beruht auf der eigenartigen Vorstellung, bei der Sozialarbeit käme es auf technische Präzision an und nicht auf produktive Einbildungskraft.

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unscharfe Logik

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Doch auch hier zeigt sich das naturwissenschaftliche Denken der zeitgenössischen Technik humaner als die Schubkasten-Logik behördlicher Beziehungsarbeiter. Die elektronische Datenverarbeitung, Prototyp von Präzision und Perfektion, erweist sich nämlich als schwerfällig und… ungenau bei der Darstellung komplexer Sachverhalte. Ihre Sprache kennt nur ja und nein, richtig oder falsch, und ihr ‘Denken’ ist eine lineare Verkettung binärer Sätze.

Damit läßt sich aber nur die Realität im Labor oder einem andern künstlichen System adäquat beschreiben. In der restlichen – physikalischen bis betriebswirtschaftlichen – Wirklichkeit sind die Ereignisse immer komplex, d. h. vielfältig bedingt. Schon für die Steuerung von Maschinensystemen im produktiven Bereich ist die scharfe Ja-Nein-Logik zu ‘genau’ und schematisch; nicht zu reden von unternehmerischen Entscheidungen. Komplexität verlangt nach Vereinfachung – jedenfalls, wenn gehandelt werden soll. Nicht auf die treue Verrechnung aller Details kommt es an, sondern auf Einstellung, Zentrierung und Umstrukturierung des Wahrnehmungsapparats.

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Die Beschreibung ganzer Gestalten erfordert analogisch-qualifizierende, nicht digital-zählende Zeichensysteme. Unterm Namen Fuzzy Logic wird neuerdings die natürliche Sprache mit ihren wertenden, aber vagen Alltagsbedeutungen in die Computertechnik eingeführt, und die ersten fuzzy-technischen Waschmaschinen, Staubsauger und Backöfen kommen gerade auf den Markt, die ihre Aufgaben selbst wahrnehmen und sich in Kenntnis ihrer Möglichkeiten je darauf umstellen können

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Und was heute schon den Staubsaugern zugemutet wird, soll für eine Equipe intelligenter Menschen eine Nummer zu groß sein? Das  wird im Ernst keiner behaupten. Dennoch: “Es geht nicht.” Warum nicht ? Weil es den Beamten in ihren Schubläden nicht gefällt?.

das praktische Beispiel.

Ja, so könnte es sein. Es ist jedenfalls der Eindruck, der bei der Betrachtung des höchst aufhaltsamen Aufstiegs des Modells Kinderhaus von der Idee zur Wirklichkeit entsteht. Vor knapp drei Jahren erstmals in der Öffentlichkeit ent­wickelt, war es von Anbeginn als Exempel für die Sozialarbeit neuen Stils konzipiert; gleichzeitig und in Einem: soziokulturelle Tagesstätte für ältere Kinder in den städtischen Wohnvierteln; informelle Anlaufstelle für ratsuchende Kinder und ihre Familien; gesellige Wohnstatt für jene, die – aus dem einen oder andern Grund – nicht im Haushalt ihrer Eltern wohnen können oder wollen. Ein integratives Angebot (diesmal paßt das Wort), wo die Schubladenwände zwischen ‘weicher’ und ‘harter’ Jugendhilfe – zwischen ‘Förderung’/Prävention und ‘Hilfe zur Erziehung’/Intervention – ebenso gefallen ist wie die zwischen ’stationär’ und ‘ambulant’.

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Nach drei Jahren und viel Mühsal ist im Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain jetzt, als Grundstein zu einem Verbund gleichartiger Einrichtungen im ganzen Berliner Raum, das erste Kinderhaus eröffnet worden.  Eine Scheidung  zwischen ‘offenem’ (Club-) und ‘geschlossenem’ (Heim-) Bereich findet nicht statt. Jeder Bewohner kann seinen Freund mit nach oben bringen (denn er hat hier sein eigenes Zimmer und kann die Tür hinter sich zumachen), während Tagesräume und Werkstätten den Kindern der Nachbarschaft offenstehen. Ebenso sind die hier beschäftigten Sozialpädagogen gleichermaßen “für alles zuständig”, eine Auftei­lung der Verantwortung geschieht nicht. Was von innen wie ein Haushalt mit vielen Kindern und mit offenen Türen aussieht, präsentiert sich von außen, d.h. vom ‘Feld’ aus gesehen, als Treffpunkt und Drehscheibe der Kindergesellschaft im Quartier – und das ist die Perspektive, auf die es fachlich ankommt.

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Freilich kein Angebot an alle Welt, sondern für eine bestimmte Stufe auf dem Lebensweg: die ehedem so genannten Flegeljahre, heute von der Berliner Behörde “Lücke-Alter” getauft, weil sie nicht weiß, was sie damit machen soll. Doch nicht die Professio-nellen weisen hier einem Klienten seinen Stand zu, sondern er selbst weist sich als dazugehörig aus – indem er ‘das Angebot annimmt’. Da es aber der Lebensabschnitt ist, der sich durch das ‘Drama von Trennung und Versöhnung’ (H. Stierlin) auszeichnet, bleibt es nicht aus, daß eine Menge Krisenfälle darunter sind; und daß hier und da helfende Beratung in engerem Sinn angezeigt ist. Indes wird sich der Bedarf umso freier zu erkennen geben, je weniger die Professionellen danach spähen: der diagnostische Blick schreckt ab.

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Oftmals kann die einstweilige Abstandnahme zwischen Eltern und Kindern den familiären Knoten soweit lockern, daß sie durchatmen und sich eigene Lösungen einfallen lassen; das Kind wohnt eine Weile im Kinderhaus und kehrt dann von allein zu den Eltern zurück. Gelegentlich wird ein professioneller Vermittler nötig. Familientherapie und Systemberatung setzen aber nicht immer eine Trennung voraus. Wer was ‘braucht’, kann keiner im voraus wissen – man wird es ausprobieren müssen.

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das Imperium schlägt zurück

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Daß Einrichtungen dieser Art zweckmäßig und, da sie kostspielige herkömmliche   (”therapeutische”) Kinderheime und Notdienste überflüssig machen, auch fiskalisch sinnvoll sind, wer wollte es leugnen. Nein, fachlich gibt es keinen Einwand gegen das Kinderhaus-Modell. Dennoch, “es geht nicht”. Weil nämlich diese Einrichtung nicht dem Schubladensystemder Berliner Senatsjugendverwaltung entspricht. Welcher Abteilung sollen sie es zuordnen? Aus welchem Topf es finanzieren? Schließlich werden hier Leistungen erbracht, die unter – sage und schreibe – ein ganzes Dutzend Paragraphen des KJHG fallen! Weil hier zuviel geleistet wird, können sie “nicht damit umgehen”. Denn wer meinte, wo viele Verwaltungsressorts für dasselbe innovative Projekt zuständig sind, da wetteifern sie alle darum, die Federführung zu übernehmen, der – weiß nicht, wo wir leben. Der Vorgang wird  von  einem  Schreibtisch auf den andern verschoben, monatelang; und monatelang hing das Kinderhaus Friedrichshain finanziell in der Schwebe, nicht aus Geldmangel, sondern aus Entscheidungsschwäche.

Würde es nicht von einem privaten Unternehmer geführt, der zu pokern wagt – es hätte unter solchen Umständen nie entstehen können.[3]

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lean production

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Der Behörde ist es unheimlich, denn es ist der Prototyp einer neuen Generation von sozialen Gemeinschaftseinrichtungen. Das gilt auf der Objektebene – was dort wie gemacht wird – ebenso wie auf der Beziehungsebene – die institutionellen Bedingungen, unter denen es gemacht wird. Es unterscheidet sich von Omas fürsorglichen Diensten und Abteilungen ebenso wie… lean production von Taylors System. Da ist zuerst das Prinzip variabler Arbeitsteilung in einer eigenverant- wortlichen Gruppe. Zudem der Grundsatz der ‘Inselfertigung’ – nämlich daß die Arbeitsgruppe von der Bedarfsanalyse über die Produktentwicklung und die Fertigung bis hin zur Vermarktung für den ganzen Arbeitsprozeß selbst zuständig ist. Die unmittelbare Nähe zum Ort der Nachfrage – just in place – erlaubt ein adäquates Angebot im rechten Moment – just in time.

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‘Kurze Wege’ für die Ratsu­chenden – das bedeutet die Auflösung jener Kathedralen der Sozialarbeit, die der Stolz mancher westdeutschen Kommune sind, wo alle ‘Dienste’ aufeinander hocken und wo für alles vorgesorgt ist; und ihre Verteilung auf polyvalente Stützpunkte in den Wohnvierteln. Menschliche Größenordnungen bedeuten ‘niedrige Schwellen’: downsizing im Jargon der Betriebswissenschaft. Downcosting ist eine – erwünschte – direkte Folge: sofern nämlich jetzt die Informationen unmittelbar an den gelangen, der sie gebrauchen kann, statt sich in einem Wasserkopf zu stauen, wo alle Signale zu einem diffusen Rauschen interferieren, so daß tote Kosten wie Fehlvermittlungen, Wartezeiten und Kontaktbrüche an der Tagesordnung sind. Die Informationskanäle, die zur Vernetzung der Stützpunkte untereinander erforderlich sind, werden aus deren internem Kommunikationsfluß ausgegliedert – outsourcing – und einem auf logistische und administrative Belange beschränkten Dienstleistungszentrum zugeordnet. Buchhaltung und Terminplanung z. B. werden im Kinderhaus-Verbund elektronisch verbunden sein.

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Was in Landesbehörden für helfende Beratung als “nicht machbar” und als Kopfgeburt realitätsferner Ideologen gilt, ist in der Industrie längst Geschäftsalltag. Richtig ist allerdings, daß Geld dort wirklich eine Rolle spielt – weil es das eigene ist. Da sind Unternehmer tätig, und die sind unabhängig. Dem aber mißtraut die Behörde erst recht.

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Umordnung der Sozialarbeit

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Demgegenüber erweist sich unser System der Sozialen Arbeit in neun Zehnteln seiner Bestandteile als eine Technologie des industriellen Steinzeitalters. Unterdessen ist sie aber zu einem Industriezweig geworden, der hunderttausenden ein Aus-, d. h. Einkommen gibt; aus öffentlichen Mitteln. Da geht es nicht länger an, daß sie gedanklich bei ihren Nachbarfächern zur Untermiete wohnt. Die Zeit für eine kohärente Selbstreflexion ist überreif. Statt auf Pump weiter zu wursteln, schuldet sie der Öffentlichkeit eine umfassende Ortsbestimmung im gesellschaftlichen Gefüge.

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In der Moderne verlieren die überlieferten, gemeinschaftsförmigen Sozialisations-Strukturen ihre Bedeutung an kommerzielle und öffentliche Vermittlungs-Agenturen. Sozialarbeit wird zu einem Mitbewerber in der großen Dienstleistungsbranche der Berater. Als Anbieter auf dem Markt wird sie zu einem Organ der zivilen Gesellschaft.

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Der Widerspruch zwischen ihrem privaten, beratenden Auftrag und ihrer institutionellen Verfaßtheit im Öffentlichen Dienst tritt erst jetzt ganz zutage. Wie der hoheitliche Charakter der behördlichen Sozialarbeit ihre helfende Absicht immer wieder dementiert – und umgekehrt -, und so weder der eine noch die andre wirklich zum Tragen kommt, ist längst dargestellt worden.[4] Fataler in ihren praktischen Konsequenzen ist die institutionelle Bindung der Sozialarbeit in hierarchische Verwaltungsapparate womöglich, indem sie ein nie versiegender Quell für Kästchendenken, Definitionsdünkel und spezialistische Machbarkeitsträume ist. Helfende Beratung ist, wenn sie zustande kommt, personale Begegnung; als solche ist sie unwiederholbar und läßt sich schlech-terdings nicht zu ‘Vorgängen’ objektivieren. Objektivieren aber muß die staatliche Hoheit, so wahr sie die Allgemeinheit vertritt. Die Sozialarbeit vertritt immer die Einzelnen. Sie ist nicht politisch, sondern zivil.

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An ihre durchgängige Umordnung zur allgemeinen Dienstleistung, zu einer öffentlichen Ressource bei der privaten Lebensbewältigung, ist nicht zu denken, solange sie nicht aus ihrer organischen Verstrickung in die öffentliche Verwaltung befreit ist. Den Weg dahin haben wir gezeigt:[5] die Überführung der gesamten ‘klinischen’ Sozialarbeit aus den Verwaltungen heraus in privatrechtliche Trägerschaft – Vereine oder Gesellschaften -, die von den Gebietskörperschaften selber zu gründen wären; und deren öffentliche Verfassung in obligatorischen Berufskammern   –   damit die Behörde nicht Sozialarbeiter, und die Sozialarbeit nicht Behörde spielen muß.

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[für die Veröffentlichung in Sozial Extra redigiert von Wolfgang Hinte]

7-8/1993


[1]Ein letztes Aufbegehren des Kümmer-Prinzips in der Sozialarbeit war der missionarisch-agitatorische Gestus der 68er: Sogenannte Randgruppen sollten emanzipiert werden. Aber in der individualisierten Risikogesellschaft läßt sich jede willkürlich herausgegriffene Menschenmenge ‘irgendwie’ als Randgruppe definieren. Der emanzipatorische Anspruch entpuppt sich so als Vehikel der Landnahme.

[2]Über die Art seiner wissenschaftlichen Ausbildung ließe sich vieles sagen. Positives Wissen, das er nur zu lernen bräuchte, gibt es für ihn kaum. Eher geht es darum, sein Mißtrauen und seine Urteilskraft zu wappnen gegen die Selbstverständlichkeiten, die ihm sein Berufsleben leichtmachen wollen.

[3] …und hat – damit die Fachwelt wieder in Ordnung kommt – ja auch nicht lange bestanden. [Nachtrag 2006]

[4]siehe “Befreit die Sozialarbeit – ein Vorschlag zur Umordnung der Jugendhilfe” in Sozial Extra 2/91

[5]siehe ebd. – Die Kammer schafft öffentliche Kontrolle, zugleich qualifiziert sie sie fachlich: Das ist neu und kann nicht schaden. Die Vergabe von Steuergeldern ist aber ein hoheitlicher Akt, und Sache der Behörde. Die Kammer kann ihr, wennschon keine objektiven, doch immerhin fachliche Vergabekriterien an die Hand reichen. Denn heute gilt dort doch immernoch: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, und: Wer hat, dem wird gegeben…

Eine kopernikanische Wende

•Februar 6, 2009 • Kommentar verfassen

oder:

Vom Ordnungsdienst zur Vermittlungsagentur

aus: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 7/1994

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hoheitliche Normen

Es gab eine Zeit, da stand es fest, wie die Welt beschaffen ist, und daß sie so zu bleiben hat. Ihr Sein war auch schon ihr Sollen. Es war klar, was die Regel war und was die Ausnahme, was Gesetz und was Abweichung, was normal war und was unnormal; und darüber, daß es weiterhin klar bliebe, wachten geistliche und weltliche Hoheiten, denn dafür waren sie da. Zwar ist die Welt in ihrer Wirklichkeit noch niemals heil gewesen, und ob das, was Pfaffen, Ärzte und Polizisten jeweils für die Regel hielten, von den Statistikern auch als gesellschaftlicher Durchschnitt wiedererkannt worden wäre, ist eine Frage für sich. Doch für die gesellschaftliche Normalität ist weniger entscheidend, ob sie ist, als daß sie gilt.

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Die mentale Verfassung eines Gemeinwesens ist für die Individuen, die es ausmachen, selber eine objektive Gegebenheit. Sie besteht nicht bloß – gedacht – in den Köpfen, sondern – real – in Raum und Zeit: in Gestalt der Institutionen.

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Der Sinn unserer Institutionen liegt, nach Arnold Gehlens klassischer Definition,[1] der Entlastung der „instinktentbundenen“ menschlichen Individuen von „zuviel Unterscheidungs- und Entscheidungsdruck“ in einem stets unübersichtlicheren, immer ‘offeneren’ Universum.

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Die sozialen Dienste sind solche Institutionen, und die Professionellen, die darin arbeiten, sind vergesellschaftete Wesen. In einem Gemeinwesen, das sich als endgültig vorkommt, ist der Staat Hoheit, die dem, der in die Irre geht, den rechten Weg weist; die ihn „ins Gemeinwesen (re-) integriert“. Er ist hier – Vater, und in gütiger Strenge kümmert er sich um die Seinen. Unter solchen Prämissen ist die Sozialarbeit, sie mag wollen oder nicht, selbst hoheitlicher und normativer Ordnungsdienst.

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Die moderne Gesellschaft versteht sich – weil sie Verkehrs- und Leistungsverhältnis ist – nicht als Familie noch als Topos in einem Heilsgeschehen, sondern als nützliche Einrichtung, die die Unendlichkeit der Warenflüsse wahrt. Als Zirkulationsprozeß ist sie wesentlich eine Open-end-Veranstaltung. Folgerichtig verheißt sie ihren Teilhabern auch nicht Happiness, sondern lediglich the Pursuit Of[2]

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Sie ist Gesellschaft, nicht Gemeinschaft.

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Gegen die geweihten Ordnungen einer seelenvollen Vergangenheit nimmt sie sich kalt und kärglich aus. Dabei ist sie das heroische Zeitalter; denn sie hat den Menschen auf seine eignen Füße gestellt und uns zur Freiheit verurteilt.

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In aller Konsequenz erleben wir es erst jetzt. Individualisierung, Differenzierung, Pluralisierung bedeuten eine Informalisierung der Verkehrsformen, wo alles immer wieder neu ausgehandelt werden muß. Was Ausnahme ist und was Regel, wer kann es noch sagen? Es ist keine Frage der richtigen Lehre mehr, sondern eine praktische Evidenz: Selbst wenn sie es wollte, die Sozialarbeit kann gar nicht mehr normativ sein – weil die verbindlichen Normen fehlen.[3] Nichts ist mehr selbstverständlich.

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Und ist ersteinmal das Sollen problematisch, dann versteht sich bald auch das… Sein nicht mehr von selbst.[4]

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Neomoderne

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Dieser Verlust der Selbstverständlichkeiten ist in den Sozialwissenschaften unter dem Stichwort „Modernisierung moderner Gesellschaften“ thematisiert und in der Öffentlichkeit vornehmlich durch die von Jürgen Habermas entwickelte Formel von der „neuen Unübersichtlichkeit“, dann durch den von Ulrich Beck geprägten Begriff der „Risikogesellschaft“ bekanntgeworden. Damit ist ein säkularer Prozeß bezeichnet, der mehr oder weniger alle industriellen Gesellschaften erfaßt und durch seine grundlegende Ambivalenz geprägt ist: „nämlich einerseits eine rasch voranschreitende Erosion traditioneller sozialer Institutionen und der mit diesen verbundenen normativen Muster. Dieser korrespondiert andererseits eine Zunahme von Möglichkeiten der individuellen Gestaltung des Lebenslaufs, die sich aber zugleich als Zwang zu eigenverantwortlicher Entscheidung erweisen.“[5]

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Möglichkeit als Zwang: Der moderne Mensch hat immer weniger, woran er sich halten könnte, er muß sich überall selbst zurechtfinden. Allenthalben vermehren sich „die vorfindbaren Subkulturen, driften auseinander, zersplittern, differenzieren sich und verlieren immer mehr gemeinsame Werte und Nenner. Die Kluft zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen wächst, und einst bindungsfähige Instanzen wie Religionen, Parteien und Ideologien verlieren an Bedeutung.“[6]

Reichte es ehedem aus, wenn er keinen Fingerbreit von Gottes Wegen abwich, so irrt der Mensch heut auf eigne Faust durchs Leben; irrt und verirrt sich auch. Daß er immer wieder mal fremden Rat braucht, ist nicht mehr die Ausnahme, sondern gehört schon zur Regel.

Der Bedarf an Beratung wächst. Doch „mit der Generalisierung der Lebensrisiken werden zugleich die Problemlagen der einzelnen Menschen untypischer und folglich die benötigten Hilfen unspezifischer, so daß sich nichtmal mehr umrißhaft sagen läßt, welches Individuum ‚heil’ und welches ‚beschädigt’ ist. Hilfe muß sich deshalb wegbewegen von der reinen Defizitorientierung (geben, was fehlt) hin zu einer Stützung von Lebenszusammenhängen (‚Unterstützungsmanagement’), in der die eigenen Ressourcen aktiviert werden und tragende Beziehungsgeflechte entstehen oder sich erweitern: vom Fall zum Feld. Der moderne Sozialarbeiter ist zuerst Vermittler von ‚Beziehungen’, also Unterstützungs- und Dialogmanager…

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Soziale Arbeit zielt zuerst auf die Ressourcen im Feld (Netzwerke), danach vermittelt sie im gegebenen Fall die Individuen mit den dort vorhandenen Helfern, und erst in dritter Instanz bemüht sie professionelle Hilfe (Experten) für den Einzelfall.“[7]

gesellschaftliche Instanz

Die Sozialarbeit ist nicht aus Begriffen und theoretischen Systemen entstanden, sondern aus Problemen, die akut wurden und „sich zeigten“: nicht doktrinal, sondern ‚aporetisch’; nicht diskursiv, sondern pragmatisch. Ihre nachträglichen begrifflichen Systematisierungen entstanden immer erst aus dem Bedürfnis, die tatsächliche Praxis der Sozialarbeit zu rechtfertigen vor ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen.

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Inzwischen ist sie aber zu einem Industriezweig geworden, der Hunderttausenden ein Aus-, d. h. Einkommen gibt; aus öffentlichen Mitteln. Da geht es nicht länger an, daß sie gedanklich bei ihren Nachbarfächern zur Untermiete wohnt. Die Zeit für eine kohärente Selbstreflexion ist überreif. Statt auf Pump weiter zu wursteln, schuldet sie der Öffentlichkeit eine umfassende Ortsbestimmung im gesellschaftlichen Gefüge..

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Daß sie es von allein bislang nicht dazu gebracht hat, liegt an ihrer Geschichte. Als marginaler Nothelfer unter obrigkeitlicher Prämisse hatte sie nur Löcher zu stopfen, und ihre Selbstzeugnisse waren buntscheckig wie ein Narrengewand. Ihre Stellungnahmen konnten punktuell bleiben – und negativ: Was nicht sein soll… Sie hatte ja per Definition mit Randgruppen zu tun und mit den Ausnahmefällen..

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Doch heute ist sie keine Rand-Erscheinung mehr, sondern selbst eine Säule im gesellschaftlichen System – die Landnahme seit ‘68 und die Explosion der Stellenpläne sind der äußere Erweis. Da muß ihr Selbstverständnis allgemein werden und positiv: Was sie sein will…

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In der informalisierten, individualisierten und pluralistischen Zivilisation heißt ihre Aufgabe eben nicht mehr: Menschen in eine wahre Ordnung fügen, sondern: ihnen auf ihrer Irrfahrt unter die Arme greifen. Statt normativ und interventionistisch, ist sie nurmehr regulativ und subsidiär. Aber sie ist nun auch nicht mehr residual und okkasionell, sondern allgemein und notwendig. In einer Wertordnung, die durch die freie Wahl der Lebensstile ausgezeichnet ist, gehört helfende Beratung unter die Bedingungen der Wahlfreiheit.

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vermitteln

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Die ‚entlastenden’ Institutionen der neo-modernen, neo-bürgerlichen Gesellschaft verlieren den traulichen Charakter von gemeinschaftsförmigen Sozialisations-Strukturen, an die man habituell heran-, in die man organisch hineinwächst, und mutieren zu – kommerziellen und öffentlichen – Vermittlungs-Agenturen, die die verlorenen Zusammenhänge ersetzen, indem sie die vereinzelten Individuen ‚bekannt machen’ mit den im aufgesplitterten ‚Feld’ verstreuten sachlichen und humanen Ressourcen. [8] Sie ‚entlasten’ die Menschen weiterhin – beim Gehen, aber nicht mehr bei der Wahl des rechten Weges im Wirrwarr der Welt. Das isolierte Individuum kann sich nur als „Ego-Netzwerker“ behaupten; und immer wieder gleiten dieser oder jenem die Fäden aus der Hand.

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Professioneller Rat wird nötig. Sache der Sozialarbeit ist nun „die Mobilisierung vorhandener Ressourcen im gegebenen (personalen) Netzwerk und andererseits die Schaffung neuer ergänzender Netzwerke durch formale Dienste und informelle Helfer“[9]. Der spezifische Dienst, den sie anbietet, ist – Vermittlung. Sie macht sich selbst mit Andern bekannt, um Andre miteiander bekannt zu machen..

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Sozialarbeit wird zu einem Mitbewerber in der großen Dienstleistungsbranche der Berater. Als Anbieter auf dem Markt wird sie zu einem Organ der zivilen Gesellschaft. Sie hört auf, politisch zu sein..

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Ihre Aufgabe ist es nicht, der Gesellschaft den rechten Weg zu weisen, sondern die tatsächlichen Mutationsprozesse moderierend zu ‚begleiten’. Sie ist ‚parteilich’, denn sie dient aber den Privatleuten und nicht den Staatsbürgern.[10] Sie wird so zu einer Instanz gesellschaftlicher Selbstregulation: Energien, die sonst aneinander vorbeiliefen, ins Leere gingen und brachlägen, werden miteinander artikuliert und verbandelt; Kollisionen, in denen viel Energie verglüht, werden abgewendet, wo sie nicht nützen. Sie ist ein „Gelenkstück“[11], intermediär, informell und alltäglich. Oder, mit der Sprache der Kybernetik zu reden, ein Regler.[12].

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Das kann auf Dauer nicht ohne Folgen für ihre institutionelle Verfassung bleiben, wenn anders sie nicht als ineffektiv und zu teuer aus dem Gesellschaftskörper ausgeschieden werden will. Denn wenn Soziale Arbeit die höhern Weihen der Wahren Ordnung verliert und zu einem innern Organ der zivilen Gesellschaft profaniert, darf diese gerechterweise die Frage stellen, ob sie sich jene leisten will. Also ob die von jener erbrachten Leistungen den mit ihr getriebenen Aufwand wert sind..

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der Wert der Sozialarbeit.

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Ja, was ist die Sozialarbeit denn „wert“? Dies ist ihr entscheidender Unterschied von anderen Dienstleistungen: daß die hier erbrachte Lohnarbeit nicht gegen Kapital ausgetauscht wird, sondern gegen Revenü – einen außerökonomischen (hier: politischen) Abzug vom Profit der andern.[13] Es gibt nur einen, monopolistischen Nachfrager nach Sozialarbeit, nämlich das (staatlich verfaßte) Gemeinwesen selbst. Es kauft nicht, wie der Kapitalist, die Arbeitskraft der Sozialarbeiter, um ihr Arbeitsprodukt an Dritte weiterzuverkaufen; sondern es heuert den Sozialarbeiter, um seine Leistung selber zu verbrauchen – d. h. unentgeltlich an seine bedürftigen Glieder weiterzureichen. Etwa so, wie ein Duodez-Fürst sich einen Hofpoeten hält, der für alle reimt. Der Anbieter – Sozialarbeiter, Träger, Initiativen – gibt es viele, aber nur einen möglichen Käufer: den – hier zutreffend so genannten – Souverän. Denn da er am Markt auf keinen Mitbewerber trifft, kann er den Preis je nach seiner fancy (Marx) ermessen; je nachdem, was sie ihm „wert“ ist. Eine prozessierende Reduktion des Preises der Sozialarbeit auf ihren Tauschwert findet – anders als bei solchen Dienstleistungen, die Kapital verwerten, welches seinerseits auf dem Markt konkurriert – auch mittelbar nicht statt..

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Reduktion der Preise auf den Tauschwert, daß heißt Ermittlung der „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit“ durch den Realprozeß der Zirkulation: Es muß sich – im ‚Spiel von Angebot und Nachfrage’ – herausstellen, wieviel der tatsächlich aufgewendeten Arbeitszeit ‚gesellschaftlich notwendig’ war, und das heißt a limite: ob sie überhaupt notwendig war.

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Wenn es aber nur einen Nachfrager gibt, findet ein solches Spiel nicht statt. Wieviel von ihrem verfügbaren Arbeitszeitbudget eine Gesellschaft für Sozialarbeit „übrighat“, läßt sich nicht ex post im Verkehr Aller mit Allen (faktisch) ausmitteln, sondern immer nur ex ante (normativ) festlegen. Der „Wert der Sozialarbeit“ ist keine ökonomische, sondern, wer hätte das gedacht, eine politische Größe..

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kopernikanische Wende

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Da wissen die Sozialarbeiter nicht mehr, woran sie sind. Eben machen sie sich, unter Schmerzen, daran, ihre pastoralen Prätentionen auf Missionierung und Gesellschaftsreform fahrenzulassen und sich zum dienenden Organ der zivilen Welt zu bescheiden; und gleich müssen sie sich sagen lassen, daß der Preis für ihre Mühen nichtsdestoweniger… politisch bemessen wird!

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Ja wie denn nun?

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Das Paradox, in das sie sich geworfen fühlen, ist dennoch bloßer Schein. Er entsteht nur, wenn es der Selbstreflexion an Radikalität fehlt, weil sie sich vor ihren Resultaten fürchtet.

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Sie hatte sich – ewig maulend zwar, denn Klappern gehört zum Handwerk – im Schatten der Macht häuslich eingerichtet, von der sie selbst einen Zipfel in Händen halten durfte. Daß es Sache der Obrigkeit sei, für Richtigkeit zu sorgen, darüber war man ja einig. Wie Unrichtigkeit zu definieren; wo, wie groß und wie zahlreich die Löcher im „Netz der psychosozialen Versorgung“, und wie die Mittel zu bemessen seien, sie zu stopfen – darüber gab es immer wieder Streit. Denn da die einen immer wieder nur mehr haben wollten – mehr Geld, mehr Stellen, mehr Staat -, gewöhnten sich die andern endlich an, grundsätzlich weniger herauszurücken. Doch an der obrigkeitlichen Prämisse hielten sie beide fest: daß die Politik eine Instanz über der zivilen Gesellschaft zu sein habe, und nicht Organ in ihr. Daß also die Polis gleichzusetzen sei mit – ihren Bediensteten.[14]

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In Wahrheit hat das Politische viele Stufen. Es beginnt überall dort, wo Öffentlichkeit entsteht, denn die bedeutet Reflexion und ist ein Einbruch in die Selbstverständlichkeit, welche ihrerseits das Unpolitische schlechthin darstellt. (Die systematische Scheidung unseres Lebens in einen öffentlichen und einen privaten Bereich ist eine der großen revolutionären Leistungen der bürgerlichen Gesellschaft.)

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Verwaltungshandeln ist nur ein ganz untergeordneter Teil des Politischen, und je mehr es sich der Öffentlichkeit zu entziehen neigt, seine ständige Bedrohung. Staatliche Bürokratie ist ein Erbstück der absolutistischen Monarchien, die die Geltung des Öffentlich-Allgemeinen erst mit ihrer Hilfe gegen die partikularen Ansprüche der Feudalen erzwingen konnten – um sie dann gegen die bürgerliche Revolution zu wenden. Sie ist nicht die legitime Tochter, wie Max Weber meinen konnte,[15] der Warenproduktion und ihres Rationalisierungsgebots, sondern ein vorbürgerliches Residuum.

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Sie zählt zu den unproduktiven faux frais der bürgerlichen Verkehrsweise, und hat nur als Polizeikorps jenseits der zivilen Gesellschaft Bestand. (Es fragt sich bloß, in wessen Auftrag – wenn nicht ihrem eigenen.)

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So und nicht anders ist, unerachtet der subjektiven Intentionen ihrer Protagonisten, auch die soziale Arbeit entstanden. Es ist die kopernikanische Wende ihrer Geschichte, daß sie sich inzwischen als deren immanente Funktion neu bestimmt.

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Politisierung des Alltags

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Politisch ist nicht nur der Staat, und öffentlich ist nicht erst die Behörde. Überall, wo das Gemeinwesen als solches „in Erscheinung tritt“, geschieht Politisches.[16] Daß es dabei nicht mit einer, sondern zuerst immer mit vielen Stimmen redet, liegt in seiner Natur (oder etwa nicht?!). Dabei kann es nicht bleiben, gewiß, es muß sich, als Hoheit, zu einem handlungsfähigen Willen konstituieren – nämlich immer da, wo das Allgemeine mit Zwangsgewalt gegen das Partikulare zur Geltung gebracht werden muß; sonst nicht.

Sache der Sozialarbeit ist nun aber nicht mehr die Geltendmachung von Allgemeinem gegen die Privaten, sondern Mediation zwischen den Privaten (und den ‚Diensten’). Sie ist funktional, nicht (mehr) hoheitlich.

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Dem entspricht, daß mit der „reflexiven Moderne“ der Risikogesellschaft[17] das Politische in den bürgerlichen Alltag selber eingekehrt ist. Die Konflikte innerhalb der zivilen Gesellschaft[18] werden zunehmend zwischen den Privaten (den diesbezüglich so genannten „Betroffenen“) selbst ausgehandelt – ohne den souveränen Eingriff des Staats, dessen Legitimität längst in Zweifel steht, denn „einerseits stirbt er ab, andererseits muß er neu erfunden werden“. Er stirbt ab – als besonderes Wesen, als Gebilde einer Souveränität und als hierarchischer Koordinator. Er muß neu erfunden werden: „An die Stelle des Handlungsstaats tritt der Verhandlungsstaat.“[19]

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Wenn nun die zivile Gesellschaft selbst politisch wird, dann verlieren die konstituierten Korps der volonté générale ihre Sonderrolle, aus ihrer Stellung über dem und gegen den bürgerlichen Alltag sinken sie in ihn herab und lösen sich darin auf. „Der Staat muß Selbstbegrenzung, Selbstenthaltung praktizieren, Monopole aufgeben.“[20]

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Zum Beispiel in der sozialen Arbeit. So wie jener seine Rolle als ideeller Gesamt-Sozialarbeiter einbüßt, verliert diese ihre Sendung als der authentifizierte Gemeinsinn und ist nicht mehr politischer als irgendwer sonst. Sie hören auf, miteinander ein privilegiertes Verhältnis zu haben.

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wer zahlt?

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Bleibt immerhin die Frage: Wer zahlt?

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Jedenfalls nicht der Ratsuchende selbst. Denn das wäre widersinnig: Helfende Beratung würde zum Luxuskonsum für Besser- verdienende; eine Variante des Psycho-Booms. Eine allgemeine Dienstleistung kann sie nur sein, wenn die Eingangsschwellen niedrig sind: auch die finanziellen. Daß es Helfende Beratung gibt, ist im Ganzen eine Gemeinschaftsaufgabe.

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Darum ist sie noch lange nicht Amtswaltung des Gemeinwesens am Einzelnen. Helfende Beratung kommt durch Vertrag zustande, nicht als Maßnahme. Unser Rechtssystem beruht darauf, daß keiner ohne rechtlichen Beistand bleibt, wenn er ihn braucht. Deshalb gibt es kommunale Rechtsberatung und das Armenrecht. Daß es sie gibt, liegt im öffentlichen Interesse.

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Daß die Menschen gesund und leistungsfähig bleiben, liegt im öffentlichen Interesse. Deshalb gibt es ein öffentlich verfaßtes Gesundheitssystem. So umstritten seine Kosten immer wieder sind: Daß es sich um Dienstleistungen an Privatleuten handelt und nicht um Vollstreckung eines Staatszwecks, das hat noch keiner in Frage gestellt.

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Und daß zum Setzen der fachlichen Maßstäbe letzten Endes die jeweilige Fachwelt – der Juristen hier, der Mediziner dort – immer noch am ehesten qualifiziert ist, auch nicht.

Was wäre also daran paradox, wenn die Existenz eines Systems Helfender Beratung durch das Gemeinwesen finanziert, seine Wirkweise aber privat verfaßt wäre? Es ist der Dünkel des öffentlichen Dienstes ebenso wie der Geltungsdrang manchen Sozialarbeiters, der hier eine Denkhemmung aufbaut; nicht der gesunde Menschenverstand.

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Daß Helfende Beratung nicht in den öffentlichen Dienst gehört, hat seine sozusagen ‚technologischen’ und ‚ergonomischen’ Gründe: Der Charakter der Tätigkeit selbst – erraten, erfinden, verlocken, präsentieren, simulieren – hat mehr mit Kunst zu tun als mit Ordnung.[21] Aber darin kommt nur zum Ausdruck, daß sie ihrer Ortsbestimmung nach nicht mehr Hoheit ist, sondern Medium gesellschaftlicher Selbstorganisation.

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Daß sie es ist, liegt im Interesse des Gemeinwesens. Um es zu sein, dient sie nicht jenem, sondern den Privatleuten.

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Doch mit der Frage, wer zahlt, erledigt sich nicht die Frage, was es kostet. Wieviel und welche Art sozialer Arbeit eine Gesellschaft nötig zu haben meint und was sie ihr wert ist, ist eine politische Frage. Aber nicht nur. Es ist auch eine fachliche Frage; sobald es nämlich um die Qualitätskriterien geht. Und darüber entscheidet am besten die Fachwelt selbst, nicht die konstituierten politischen Korps.

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Darüber, wieviel das Gemeinwesen für soziale Arbeit ausgibt, sollte die Sozialarbeit besser nicht mitreden wollen: in wessen Namen wohl? Auch nicht darüber, wie das Geld verteilt wird: Das gibt nur Zank. Aber die fachlichen Maßstäbe, nach denen der Hoheitsträger über die Verteilung öffentlicher Mittel entscheidet, die kann nur sie setzen und kein anderer.

Dazu freilich müßte sie mit einer Stimme reden. Das heißt, sie müßte sich selbst repräsentieren können. Also sich selbst verfassen: repräsentativ heißt öffentlich (nach innen wie nach außen).

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Als wir vor drei Jahren der Fachwelt unsern Vorschlag zur Selbstorganisation der Sozialarbeit in einer öffentlich-rechtlichen Kammer vortrugen,[22] da wurde er mit ohrenbetäubendem Schweigen begrüßt. Dabei ist es bis heut geblieben. Kein Wunder: Weder die Verwaltung hätte einen Vorteil davon, noch die „Betroffenen“ selbst. Der Vorteil läge ganz und gar beim… Gemeinwesen. – Vielleicht liegt hier eine dankbare Aufgabe für die akademischen Vertreter unseres Fachs? Dann wüßten sie auch endlich, wo sie hingehören.

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Daß eine gründliche Umordnung der sozialen Arbeit auf der Tagesordnung steht, ist außer Frage. Es kann ja sein, daß unser Vorschlag zur „Verkammerung“ der Weisheit letzter Schluß nicht war. Aber ein anderer ist bislang nicht gemacht worden. Wie wärs, wenn die Debatte sich wenigstens auf das Niveau erheben würde, das heute schon möglich ist?

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[1] Gehlen, A., Urmensch und Spätkultur, Ffm 1977, S. 43

[2] so in der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte

[3] Ein letztes Aufbegehren des Kümmer-Prinzips in der Sozialarbeit war der missionarisch-agitatorische Gestus der 68er: Sogenannte Randgruppen sollten emanzipiert werden. Aber in der individualisierten Risikogesellschaft läßt sich jede willkrlich herausgegriffene Menschenmenge ‚irgendwie’ als Randgruppe definieren. Der emanzipatorische Anspruch entpuppt sich so als Vehikel berufsständischer Landnahme.

[4] „Wenn man nicht weiß, wohin man geht, weiß man bald auch nicht mehr, wo man sich befindet.“ Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Ffm 1987, S. 188

[5] aus Winkler, M., Stellungnahme zur Konzeption eines Verbundes von Kinderhäusern im Berliner Raum (unveröffentlicht)

[6]Hinte, W., Die mit den Wölfen tanzen, in Sozial Extra 7-8/93

[7] aus Hinte, W., Gutachterliche Stellungnahme zum Kinderhaus in Berlin-Friedrichshain (unveröffentlicht)

[8] krassestes Beispiel : die Entwicklung der Schule von der Charakter- und Status-Schmiede zu ‚Informations’-Börse und zu ‚Verhaltens’-Studio

[9]vgl. Nowak, J., Computerunterstützte Netzwerkarbeit als Case Management – Sozialarbeit in einer sich zerfasernden Gesellschaft, in Soziale Arbeit 3/90.

[10] Ja, als eine der Bedingungen persönlicher Wahlfreiheit setzt sie manche Menschen erst instand, Staatsbürger zu werden; vgl. hierzu den Abschnitt Wahlfreiheit und Sozialstaat in unserm Beitrag Das Kinderhaus – Modell für die Sozialarbeit der Zukunft in ‚Jugendhilfe’ (Luchterhand) 2/92

[11] siehe Fußn. 6)

[12] vgl. Wiener, N., Kybernetik, Reinbek 1968

[13] vgl. Marx, K., Marx-Engels-Werke, Bd. 42, Bln 1983; S. 226ff

[14] Die bekannte Definition des Staates als eine „Ansammlung bewaffneter Menschen“ war kritisch gemeint; aber die Nutznießer nehmen sie positiv: Der Staat sind wir.

[15]Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, Tbgn. 51972, v. a. S. 551ff. – Auch in der großen Industrie sind Bürokratismus, Hierarchie, Kästchendenken und lineare Entscheidungsprozesse Anachronismen aus deren Frühzeit: siehe unsern Beitrag Eine Steinzeit-Technologie? in Sozial Extra, 7-8/93. – Die bürokratische Konterrevolution im jungen Sowjetstaat wurzelte ihrerseits in dessen Herkunft aus einer vorbürgerlichen Gesellschaft, nicht in bürgerlicher Digression; sonst sähe es in Rußland heute anders aus.

[16] Die Definition des Politischen durch Bezugnahme auf den Klassenkampf war nur haltbar unter der logischen Prämisse, daß wir in der Epoche der Weltrevolution lebten. Diese ist jedoch seit den Ereignissen der Jahre 1989-90 hinfällig.

[17] Beck, U., Die Erfindung des Politischen, Ffm 1993, S. 214ff und pass.

[18] Als zivil verstehen wir alle, die nur sich selbst repräsentieren und gegen andere kein Amt in Anspruch nehmen; politisch werden die Einzelnen immer dann, wenn viele ‚sich selbst’ gemeinsam und gegenseitig repräsentieren. Die moderne Staatsidee beruht auf der Vorstellung, daß sich alle Einzelnen vertraglich gegeneinander verpflichtet hätten. Das Politische und das Zivile sind also nicht substanziell, sondern nur verhältnismäßig verschieden; nämlich nach dem Grad der Stellvertretung.

[19] Beck aaO

[20] ebd., S. 219

[21]siehe Eine Steinzeit-Technologie?, aaO, sowie Ein gewagtes Unternehmen – Warum soziale Arbeit nicht länger in den öffentlichen Dienst gehört;

[22]siehe Befreit die Sozialarbeit ! – Ein Vorschlag zur Umordnung der Jugendhilfe in Sozial Extra 2/1991

„PISA im Wortlaut“!

•Januar 8, 2009 • Kommentar verfassen

kleine Ungereimtheit

Um der seit Jahr und Tag eher noch zu- als abnehmenden Konfusion um den Gegenstand und die pp. Ergebnisse der PISA-Erhebungen abzuhelfen, veröffentliche ich auf einem besondern Blog einen ausführlichen wörtlichen Auszug aus dem statistisch unerheblichursprünglichen Bericht von 2001 – sowie einige zusätzliche Bemerkungen, die seither erforderlich wurden…:

PISA im Wortlaut

Kinder sind…

•Dezember 31, 2008 • Kommentar verfassen

fass

…keine Fässer, die gefüllt, sondern Flämmchen, die entfacht sein wollen.

flamme

Francois Rabelais zugeschrieben

Dem Unfug Raum geben

•November 4, 2008 • 2 Kommentare

Motto:

Seht das Kind umgrunzt von Schweinen,

hilflos, mit verkrümmten Zehn.

Weinen kann es, nichts als weinen –

Lernt es jemals stehn und gehn?

Unverzagt! Bald, sollt ich meinen,

könnt das Kind ihr tanzen sehn!

Steht es erst auf beiden Beinen,

wirds auch auf dem Kopfe stehn.

Friedrich Nietzsche

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aus: Sozialmagazin 5/92 (Mai) _________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________

Dem Unfug Raum geben

Memorandum zum Landesjugendplan für Berlin

Der Kinderring Berlin e.V. befürwortet eine gründliche Umorientierung der Kinder- und Jugendpolitik in Berlin und in Deutschland. Erforderlich ist ein radikaler Perspektivenwechsel.

Es muss gebrochen werden mit der Gewohnheit, Kindheit immer in erster Linie unterm Gesichtspunkt notweniger Betreuung zu sehen – so als ob Kinder besonders zerbrechlich und dem Leben besonders schutzlos ausgeliefert wären. Diese Einstellung entspricht nicht den Bedürfnissen der Kinder, sondern denen der Pädagogen.

Es muss gebrochen werden mit der Gewohnheit, Kinder immer unterm Gesichtspunkt notweniger Erziehung zu sehen – so als ob Kindheit nur eine unvollständige, mangelhafte und verkehrte Version des Erwachsenseins wäre, die man gar nicht schnell genug „überwinden“ kann. Diese Einstellung entspricht weder den Interessen der Kinder noch denen der Erwachsenen, die sie einmal sein werden; sondern wider nur denen der Pädagogen.

Es muss gebrochen werden mit der Gewohnheit, ‚Sozialisation’ immer so aufzufassen, als bedürfte sie besonderer (professioneller) Sozialisations- techniker, und als hätte Kinder nicht ihre eigenen Wege und ihren eigenen Wunsch, sich mit einander zu vergesellschaften. Diese Einstellung hat dazu geführt, dass die erwerbsmäßigen Pädagogen Jahrzehnte lang die eigenen Sozialisationsformen der Kinder nicht nur ignoriert und missachtet, sondern die real immer wieder neu erwachsene Kindergesellschaft überall dort, wo sie sich behaupten konnte, für sich ausgeschlachtet oder bekämpft haben.

Wir meinen, dass Kindheit ein eigener Lebensabschnitt ist mit eigener Würde und mit eigenem Verdienst, der sich vor den andern Lebensaltern nicht erst rechtfertigen muss, indem er sich ihnen als Verdienstquelle darbietet.

Kindheit ist nicht ‚gefährdete Existenz’, die von den Fährnissen einer schlechten Welt abgeschirmt und ferngehalten werden muss, sondern – als erstes Kapitel im Lebensroman eines jeden – eine besonders lebendige Existenz, die mitten hinein gehört in die Welt, um sie vorm Einschlafen zu bewahren: Wir alle haben als Erwachsene unvergleichlich mehr von dem, was wir als Kinder erlebt, als von dem, was wir als Kinder gelernt haben.

Kindheit ist die Zeit, wo sich ein jeder der Vorrat an Unternehmungsgeist, Tatendrang und Zivilcourage zulegen muss, von dem er dann ein ganzes erwachsenes Leben lang zehrt. Aufgabe der Politik in einem Gemeinwesen, das auf selbständige Staatsbürger angewiesen ist, muss es darum sein, die Räume zu verteidigen und auszuweiten, in denen die Kindergesellschaft sich entfalten kann. Es gilt Raum zu schaffen, wo öffentlich Unfug geschehen kann, nämlich solche Dinge, die sich in die in unserer Erwerbsgesellschaft gültige Logik von Nutzen und Verwertung nicht einfügen, weil sie – „noch“ – einer anderen Logik folgen: einer Logik, wo die Sachen um ihrer selbst willen da sind. Diese Logik ist, wohl bemerkt, nicht ‚richtiger’ als die der Erwachsenen; aber eben auch nicht ‚falscher’.

Das bedeutet sicher nicht, dass die inzwischen eingerichteten Kinder-Nischen alle wieder dicht gemacht werden müssten; denn solange es gewiss nicht all zu viele davon gibt, sind sie immer noch besser als gar nichts. Nur muss auch hier die Perspektive eine radikal andere werden: nicht geschützte Sozialisier-Werkstatt, sondern Treffpunkt und Drehscheibe; Kristallisa- tionspunkt der Kindergesellschaft und Sprungbrett in die Welt. Es geht auch nicht darum, dass an den öffentlichen Plätzen dieser Stadt weitere Kindermöbel aufgestellt werden. Es geht darum, dass Kinder sich in der Einen Welt, in der es Kleinere und Größere schon immer gegeben hat, wieder frei bewegen können, ohne sich allerorten „begleiten“ lassen zu müssen. Es geht nicht darum, „die Kinder von der Straße zu holen“, sondern im Gegenteil darum, die Straßen wieder so einzurichten, dass dort für Alle Platz ist.

Denn wenn eines Tages der Punkt erreicht wäre, dass Lausbuben- geschichten nur noch in der Literatur vorkommen, dann wäre die Gesellschaft alt geworden. Wenn die Erwachsenen Sorge tragen, dass Verwerter und Betreuer ihren Kindern nicht noch den letzten Platz und den letzen Rest ihrer… Zeit wegnehmen, dann tun sie vor allen Dingen sich selbst einen Gefallen: weil sie sich damit gegen das Verblöden rüsten. Kurz und gut, Kinder- und Jugendpolitik ist Kulturpolitik, nicht Wohlfahrtspflege.

Insbesondere erwartet der Kinderring Berlin e.V. daher folgende Schwerpunkte in der Kinder- und Jugendpolitik des Senats von Berlin:

1) Verkehrsberuhigung (nicht Verkehrsverhinderung) in den Wohngebieten

2) Ausbau des öffentlichen Nah- und Regionalverkehrs

3) Freie Fahrt für Kinder bis dreizehn im ÖPNV und drastische Ermäßigungen im Regionalverkehr

4) Erhalt des schulfreien Nachmittags

5) Sicherung wohlfeiler (wenn auch schlichter) Zeltlagerplätze in Berlin und der Mark Brandenburg (Sichtung der Berliner Stadtgüter in diesem Sinn!)

6) Erhalt und Ausbau des Netzes von Jugendherbergen im Osten Deutschlands

7) Erhalt des kostenlosen Zugangs zu den Berliner Museen bis dreizehn Jahre; generelle Einführung besonderer Kindergruppentarife (ab drei Kinder) in allen öffentlich geförderten Freizeit- und Bildungseinrichtungen

8] Steuerliche u. a. Anreize für Hausbesitzer in Altbaugebieten, die Hinterhöfe für den Durchgang zu öffnen

9) Öffnung der Laubenkolonien für die Öffentlichkeit

10) Förderung von Fahrraddepots und –ausleihen an den Endpunkten der S-Bahn

11) konsequente Sanierung aller Badeseen und Freibäder an den Flussufern

12) Öffnung aller See- und Flussufer für die Allgemeinheit, rigorose Entseilschaftung!

Generell fordern wir von der Verwaltung eine Abkehr von der Jahrzehnte langen falschen Priorität in der Kinder- und Jugendpolitik, wonach Personalkosten „wichtig“ und Sachkosten „nachrangig“ sind. Auch hier ist ein radikaler Perspektivenwechsel fällig. In allererster Linie muss es darum gehen, jungen Menschen Sachliches verfügbar zu machen, damit sie es sich aneignen. Erst in Hinblick darauf wird – u. U.! – Personal erforderlich, das sie in die angemessenen Aneignungstechniken einweist. Es soll nämlich niemand fachgerecht bedient werden, sondern junge Leute sollen die Gelegenheit finden, ihre eigene Welt zu erweitern. Da ist es allemal wichtiger, dass die Sachen zur Hand sind, als dass ein Betreuer im Nacken sitzt.

Kinderring Berlin e.V.

Berlin, den 16. 2. 1992

Ein gewagtes Unternehmen

•Oktober 31, 2008 • Kommentar verfassen

Warum Sozialarbeit nicht länger in den Öffentlichen Dienst gehört

in: Soziale Arbeit 12/1993

Hier und jetzt

Orientierung auf die Lebenswelt ist, spätestens seit dem 8. Jugendbericht, zum Leitmotiv zukunftsorientierter Sozialarbeit geworden. Und das heißt im besondern: Die Blickrichtung wechseln vom „Fall“ – und dem ihn konstituierenden außerordent-lichen Symptom – hin zum ‚Feld’ des lebendigen Alltags und allem, was da möglich ist…

Das Bundesland Bremen wollte damit ernstmachen und hat in seiner Neuordnung der sozialen Dienste (NOSD) vor Jahr und Tag die zentralen Spezialdienste zum Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) zusammengefaßt und ihn – in die Wohnviertel hinausverlagert. ‚Stadtteilbezug’ und Orientierung auf die Lebenswelt sind quasi zu Synonymen geworden.

Nach zwei Jahren sollte nun Bilanz gezogen werden auf der Fachtagung Ortsbestimmung der ambulanten Dienste für Kinder und Jugendlicheam 26.-29. 4. 1993. Der folgende Text ist die überarbeitet Fassung eines dort gehaltenen Referats.

„Ist der kommunale Bereich der adäquate Ort für die ambulanten Dienste?“, hieß die selbstkritische Frage.

Man ist versucht zu entgegnen: Ja welcher denn sonst?!

Bei den stationären Angeboten könnte man sich ja noch vorstellen, daß aus diesem oder jenem Grunde eine räumliche Trennung angezeigt wäre zwischen dem Ort, wo der Bedarf aufgetreten ist, und dem Ort, wo die Leistung erbracht wird (und in der Regel gilt für den Zeitpunkt dann dasselbe). Aber doch nicht bei den ambulanten Diensten, deren Raison d’être doch eben, wie im klassischen Drama, die Einheit von Ort und Zeit ist!

Doch ambulant wird die Sozialarbeit wohl werden müssen, wenn sie in natürlichen Lebenswelten wirken will statt auf künstlichen Stationen…

Man möchte also über das Ob rasch hinweggehen und sich sogleich aufs Daß verständigen; wäre da nicht ein beunruhigender Doppelsinn in der Formulierung der Frage.

Daß das Gemeinwesen der – fachlogisch wie topographisch – angezeigte Ort ambulanter Dienste ist, ist selbstverständlich bis an den Rand der Tautologie. Daß jedoch die kommunale Verwaltung ihr geeigneter Rahmen wäre, ist so strittig wie nur irgendwas. Wie man auf die ‚Rückseite’ der Frage antwortet, hängt indes ab von den Gründen, weshalb man auf der ‚Vorderseite’ mit Ja geantwortet hat.

Die Erwäggründe, die auf der Vorderseite das Ja erheischen, gebieten auf der Rückseite ebenso kategorisch ein Nein.

Die Sozialarbeit ist nicht aus Begriffen, nicht aus theoretischen Systemen entstanden, sondern aus Problemen, die akut wurden und „sich zeigten“: nicht doktrinal, sondern ‚aporetisch’; nicht diskursiv, sondern pragmatisch. Ihre nachträglichen begrifflichen Systematisierungen entstanden immer erst aus dem Bedürfnis, die tatsächliche Praxis der Sozialarbeit ins Verhältnis zu setzen zu ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen. Will sagen, die theoretische Reflexion unserer Disziplin kommt notwendigerweise immer erst post festum (wie das Wort Reflexion ja vermuten lässt.) Systematische Erörterun-gen über ihre gesellschaftliche Sendung und ihre richtigen Methoden sollten daher sinnvollerweise nicht bei der Konstruktion eines „wahren Begriffs“ von Sozialarbeit ansetzen, sondern mit einer faktischen Bestandsaufnahme: Welches sind die Aufgaben, die die Sozialarbeit in unserer Gesellschaft tatsächlich erfüllt ?

Danach kann man dann die Frage stellen, ob sie sie zufriedenstellend bewältigt, oder ob sie ihre Sache – so oder so – besser machen könnte…

Natürlich kann man sich für die Sozialarbeit immer auch andere Aufgaben ausdenken als die, die sich ihr ‚von sich aus’ stellen; nur muß man sich dann darüber im Klaren sein, daß das keine fachimmanente, sondern eine im strengsten Sinn politische Diskussion ist.

sich zurechtfinden

Zunächst einmal, was sicher nicht zu den Aufgaben der Sozialarbeit gehört: Mit Sicherheit weist sie den Menschen nicht den richtigen Weg durchs Leben. Sie sagt ihren Kunden nicht, wie „man“ es „richtig macht“. Nicht unbedingt, weil die einzelnen Sozialarbeiter das nicht wollten: Lebensläufe korrigieren und Schicksal spielen gehört sprichwörtlich zu den Dauer-Versuchungen des Metiers.

Sondern weil sie es, bei bestem oder bösem Willen, nicht können.

Die Gesellschaft, in der wir leben, hat keine verbindlichen Normen mehr, an die man sich nur zu halten bräuchte, um glatt und problemlos durchs Leben zu kommen. „Eines schickt sich nicht für alle. Schaue jeder, wie er’s treibe. Schaue jeder, wo er bleibe – und wer steht, daß er nicht falle.“ (Goethe) Die bürgerliche Zivilisation hat die Menschen aus den heiligen Ordnungen von Gottes Gnade befreit und auf die eigenen Füße gestellt: Wir sind „zur Freiheit verurteilt“.

Was sie ‚ihrem Begriff nach’ schon immer gewesen ist, ist sie in den letzten Jahrzehnten auch in der Erlebenswirklichkeit des Durchschnittsmenschen geworden. „Ende der Normalbiographie“ nennen das die Soziologen und Kulturhistoriker. Individualisierung und Differenzierung der Lebensstile, Informalisierung der Verkehrsweisen sind die Charakteristika der an diesem Jahrtausendende ‚zu sich selbst kommenden’ bürgerlichen Gesellschaft.

Wo ein jeder sich selbst zurechtfinden muß und nichts mehr hat, woran er sich halten kann, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß einer in die Irre geht. Nicht in dem Sinn, daß er das Ziel verfehlt (denn dieses eine haben wir nicht mehr: Jedes ist so gut wie das andere), sondern daß er sein Ziel verfehlt: weil es nicht von dieser Welt war, oder weil er sich unterwegs verlaufen hat… Ob ein Lebensplan richtig oder falsch ist, läßt sich a priori (= aus dem Begriff her aus) gar nicht entscheiden, sondern immer erst a posteriori (= nach der Erfahrung); danach, ob einer „es schafft“ oder scheitert. ‚Richtig’ oder ‚falsch’ sind darum keine brauchbaren Kategorien der Sozialarbeit mehr, sondern nur noch: ‚mehr oder weniger wahrscheinlich’…

Der Sozialarbeiter ist folglich auch nicht mehr Wegweiser, sondern helfender Berater. Das Leben ist so unübersichtlich geworden, daß sich keiner mehr in allen Lebensbereichen gleichermaßen gut zurechtfindet. Irgendwo, irgendwann ist jeder mal auf einen Experten angewiesen: Rechtsberatung, Steuerberatung, Schönheitsberatung, Gesundheitsberatung, Vermögensberatung… Und eben immer öfter auch: Beratung in Fragen der persönlichen Lebensführung; des Zusammenlebens zumal. Denn hier ist nun nichts mehr selbstverständlich. Wie eine ‘richtige Familie’ auszusehen hat, traut sich nichtmal mehr der Gesetzgeber zu sagen. Was früher als sicherer Hafen und ruhender Pol gegolten hat, ist heute der riskante Teil des Lebens par excellence.

Der helfende Berater ist nurmehr regulativ wirksam, als ein Faktor unter vielen andern in einem vielf„ältig bedingten Prozeß; nicht mehr normativ als einer, der einen Zustand herbeiführt nach Maßgabe eines fixierten Solls.

Darum ist sein Wirken immer ad hoc. Der gegebene Rat ‚greift ein’ in den aktuellen Lebenslauf – die Auseinandersetzung des Ratsuchenden mit sich und den anderen. Den Interaktionsfluß unterbrechen, den Ratsuchenden ‚aus dem Verkehr  ziehen’, um ihn in einem – künstlich – dafür eigens eingerichteten Milieu (der ‚Station’) einem erdachten Behandlungsplan zu unterziehen und ihn hernach in seine – ihrerseits un,behandelte’ – Lebenswelt zurückzuversetzen: das kann nur ausnahmsweise Sache der Sozialarbeit sein, und ähnelt eher dem Eingriff des Arztes. Der gegebene Rat des Sozialarbeiters ist immer nur so gut wie das, was der Ratsuchende daraus macht, und zwar zuerst einmal hier und jetzt. Der ‚günstigste Zeitpunkt’ ist immer der, wo der Verirrte merkt, daß er einen Rat braucht: wenn die Nachfrage ‚sich zeigt’. Just in place und just in time müssen das Motto der Sozialarbeit sein. Per Definition ist sie dynamisch – und also nicht „stationär“.

Und will sie den Bedarf an helfender Beratung ‚erkennen’ können, so muß sie sich dort aufhalten, wo er ‚sich zeigt’: in den Wohngebieten…

singuläres Ereignis

Der Ausdruck „Defizit“ hat damit keinen Sinn mehr in Hinblick auf eine zu erfüllende Norm, sondern nur noch gemessen an dem je singulären Lebensplan des Ratsuchen-den. Der Berater mag ihn in seinem Kopf haben, solange er noch auf der Suche ist nach einer Einsicht in das besondere Lebensproblem seines Kunden. Aber gegenüber einem Dritten kann er ihn sinnvoll nicht mehr aussprechen. Ich schlage vor, ihn ganz aus unserm Repertoire zu streichen.

Das gilt übrigens für alle klassifikatorischen und „diagnostischen“ Vokabeln. Sie haben, wenn überhaupt, nur noch den Sinn, mir einen Zugang zum Problem des Andern zu öffnen. Sie sind ein Geländer, an dem ich mich ins Durcheinander eines fremden Lebens vortaste. Stehe ich erst einmal mittendrin, kann ich loslassen und mit meinen eigenen Augen sehen. Seh-, Denk- und Verständnis-Prothesen brauche ich dann nicht mehr. Und einem Dritten brauche ich sie schon gar nicht mitzuteilen…

Helfende Beratung ist nämlich, wenn sie zustandekommt, personale Begegnung. Das ist immer ein singuläres Ereignis, das sich seiner Natur nach nicht wiederholen, und auch keinem Außenstehenden adäquat mitteilen läßt. Positive Regeln, „wie man sowas macht“, gibt es naturgemäß nicht. Man muß es versuchen, und dann wird man sehen, ob es gelang. Allerdings ist es ratsam, dabei Regeln zu beachten ; doch keine positiven, erfolgverheißenden, sondern kritische, ‚apagogische’ – solche, die mich in Schutz nehmen gegen einige allzu bekannte Fehlerquellen, als da sind: die Gutgläubigkeit gegenüber der Stimme des eignen Herzens; die Selbstverständlichkeiten einer wohl-meinenden Öffentlichkeit; meine eigenen Standesinteressen, die sich gern als ‚das Bedürfnis des Klienten’ tarnen – und gegen das, was ich in den Büchern gelesen habe…

Artisten

Wer diesen Beruf ergreift, sollte wissen, daß er sich auf ein Abenteuer einläßt. Es ist ein Wagnis, das sich jeden Tag wiederholt: Er muß sich in jeder Situation neu entscheiden, hinter jeder Wegbiegung mit einer Überraschung rechnen und in jedem Moment bereit sein, die Pläne von gestern umzustoßen.

Er muß vom Typus her ein Unternehmer sein.

Menschen dieses Typus haben es im Öffentlichen Dienst bekanntlich schwer. Denn der vertritt die Belange der Allgemeinheit, nicht die singulären Anliegen von Privatleuten. Er muß – im demokratisch-repräsentativen Gemeinwesen zumal – auf Regelhaftigkeit, Vor-schrift, Sicherheit und Berechenbarkeit bedacht sein, und das im Interesse eines Jeden von uns. Denn wie anders wäre eine rechtsstaatliche Verwaltung möglich ?

Ich stimme nicht die tausendunderste Jeremiade über eine schlimme Bürokratie an. Ein Grundbestand von Bürokratismus ist für den Rechtsstaat unerläßlich, man kann den einen nicht ohne den andern haben.

Daß dieser Grundbestand hier und anderswo weit überschritten wird, bin ich zu bestreiten weit entfernt; aber das ist ein allgemein gesellschaftspolitisches Thema, doch kein Fachproblem der Sozialarbeit, und stellt sich bei Daimler und IBM nicht minder. Das Kreuz mit dem Öffentlichen Dienst ist bloß, daß es dort kein Gegengewicht gibt…

Der Sozialarbeiter lebt in einer völlig andern Welt. Ihm ist es ausschließlich um das ganz persönliche Lebensproblem dessen zu tun, der zu ihm gekommen ist und ihn um seinen Rat gefragt hat. Ob er ihn als ‚Fall’ einer ‚Regel’ zuordnen kann oder nicht, darf ihm herzlich gleichgültig sein, denn er ist nicht dazu da, Regeln zu restaurieren und Normen geltend zu machen. Seine Aufgabe ist, dem Ratsuchenden, dem der Überblick über die vielen Fäden seines Lebens verlorengegangen ist und der sich wie in einem Knoten darin festgezurrt hat, bei der Suche nach einem Ausweg aus seiner Verstrickung zu helfen. Wenn ihm das eine oder andere dabei bekannt vorkommt, dann mag es ihm als einstweilige Sehhilfe dienen, aber mehr auch nicht. Ansonsten ist er an seine produktive Einbildungskraft verwiesen.

Man sieht: Gefordert sind in beiden Bereichen Vertreter höchst gegensätzlicher Menschenschlage; hier Artisten auf dem Drahtseil, dort verläßliche Felsen in der Brandung. Man kann ohne Schaden für die eigne Person nicht das eine und das andre zugleich sein wollen.

Nicht von ungefähr ist das Burnout-Syndrom die charakteristische Berufskrankheit des Öffentlichen Dienstes: Die Anforderungen, die hier gelten, sind allzu fremd in der Welt des bürgerlichen Alltags. Und nicht von ungefähr leiden unter allen öffentlich Bediensteten die Sozialarbeiter quantitativ wie qualitativ am stärksten unterm Burnout: Von ihrer sachlichen Aufgabenstellung – ‚Objektebene’ – sind sie ‚Unternehmer’ par excellence; von den institutionellen Bedingungen ihrer Praxis her – ‚Metaebene’ – sollen sie perfekte Funktionäre sein, wie der Bürohengst.

Wer da nicht über kurz oder lang zur Flasche greift, kann nicht begriffen haben, was von ihm verlangt wird!

So viel über das persönliche Dilemma des Sozialarbeiters im öffentlichen Dienst. Aber da ist darüberhinaus ein fachliches Dilemma. Denn der einzelne Sozialarbeiter ist eben nicht – einzeln: Er ‚arbeitet’ im institutionellen Rahmen dieses oder jenen ‚Dienstes’. Der Dienst ist eine ‚Abteilung’, ein Subsystem des ganzen hoheitlichen Apparats. In ihm spiegelt sich wider: „die Rechtslage“! So viele Paragraphen, so viele Leistungen, so viele Bedarfe, so viele Ansprüche, so viele Töpfe, so viele… Dienste. Auf jedem Töpfchen ein Deckelchen.

Die hoheitlich Verwaltung, ‚Vater’ Staat, läßt ihren Blick über die zivile Gesellschaft gleiten und rechnet dieselbe sich zu. Ihre systematische Prämisse ist die Selbstdefinition der Dienste und Abteilungen durch „die Rechtslage“ und die durch sie gebotene „Maßnahme“. Unter diesem Aspekt blicken sie hinaus ins ‚Feld’ und spähen sie nach ‚Merkmalen’, nach denen sie das Feld ‚auf sich beziehen’, nämlich – qua ‚Klientel’ – unter sich aufteilen können.

Doch diese Optik ist fachlich falsch und schädlich. In der Wirklichkeit des sozialen Feldes gibt es keine Gesetze, Kategorien, Typen, Störungen…, und folglich auch keine ‚Fälle’ und keine ‚Merkmale’. Da gibt es nur lauter Leute, und von denen kommen einige mit ihren Lebensproblemen selber klar und andre nicht. Letzteren bietet die Sozialarbeit ihren helfenden Rat an. Welchen, das hängt immer davon ab, wo das Problem liegt (die Ratsuchenden täuschen sich allzuoft in diesem Punkt). Ihr wahres pragmatisches Problem besteht nicht darin, die „richtige Diagnose“ zu finden (nach objektivierbaren Vorgängen ), sondern die Ratlosen, die noch nicht bemerkt haben, daß sie Hilfe brauchen – und ipso facto dringender als die andern! -, auf ihr Hilfsangebot aufmerksam zu machen. Sie muß im Feld Präsenz zeigen und – buchstäblich – sich interessant machen. Sie muß sich ausprobieren lassen. Kurz, die Inanspruchnahme ihrer Dienste muß so informell geschehen können, wie – die andern Verkehrsakte der neomodernen, neobürgerlichen Gesellschaft auch.

Oder noch kürzer: Sie darf nicht länger Behörde sein.

Ein Vorschlag zur Umordnung der Jugendhilfe

•Oktober 27, 2008 • Kommentar verfassen

Für eine öffentlich-rechtliche Kammer der Sozialarbeit

Dass das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz im letzten Frühjahr (1990) so sang- und klanglos über die Bühne gehen konnte, war kein Ruhmesblatt für die ehedem so rührige Zunft der Sozialpädagogen. Ja, allerlei Flickwerk im Detail – aber eine tragende Idee, eine gesellschaftliche Perspektive, die hätte mobilisieren können? Fehlanzeige.

Das Ergebnis ist danach. Richtig dagegen sein kann man nicht: Es sind ja wirklich ein paar Fortschritte da und dort. Aber so recht zufrieden ist auch keiner. Das macht: Es wimmelt von Kann- und Sollbestimmungen, in denen die Grundfragen, wie etwa das Verhältnis von Kindes- und Elternrechten, absichtsvoll untergehen.

Zum Glück geben uns die Kann- und Sollvorschriften eine – unverdiente – zweite Chance. Sie machen nämlich die Novellierung der landesrechtlichen Ausführungsgesetze zum bisherigen Jugendwohlfahrtsgesetz unabdingbar: Die Lücken müssen geschlossen werden. Vielleicht könnte ja gerade die Jugend- und Sozialpolitik gewinnen im Prozess der deutschen Vereinigung – und seiner Neubelebung des föderalen Prinzips?!

Die Voraussetzungen sind ja da. Ein Hauch von ‘68 hängt nämlich in der Luft. Die Profession ist, endlich, der technizistischen Kleinkrämerei überdrüssig. Eine neue Idee müsste her. Aber wer traut sich?

Dabei liegen alle sachlichen Elemente längst auf dem Tisch des Hauses. Es gilt nur noch, sie zusammen zu fassen unter eine ordnende Perspektive. Aber dazu müsste man einen geeigneten Blickpunkt finden; Überblick finden über das Chaos der tausendfältig spezialisierten Dienste. Gibt es im Reich der Jugendhilfe ein Institut, an dem man exemplarisch die Grundfrage der öffentlichen Sozialarbeit zur Darstellung bringen kann?

Das gibt es: Es ist das Kinderheim – weil nämlich „das Heim“, oder vielmehr der Weg, wie man dort reinkommt, als Paradigma der gesamten Jugendhilfe gelten kann. Denn während ursprünglich „das Heim“ Kern- und Herzstück der Sozialpädagogik war, so ist es heute deren partie honteuse (dt. Schamteil); und beides ist gleichermaßen charakteristisch.

Heimunterbringungsverfahren“

Dass „das Heim“ heute mehr den je als Notmaßnahme, als rettende „Intervention“ in einem ansonsten rettungslosen „Fall“ erscheint, hat, neben manchen andern, einen wesentlichen Grund im administrativen Verfahren, das zur „Einweisung“  führt. Denn in der Arbeit der Sozialarbeiterinnen bei der Familienfürsorge ist die Heimunterbringung tatsächlich eine äußerste Maßregel: weil sie durch sie nämlich „den Fall abgeben“.

Ist der „Vorgang“ erst einmal in Bewegung gesetzt, hat die Sozialarbeiterin keinen aktiven Einfluss mehr auf seinen Verlauf – ihre professionelle Verantwortung ist ausgesetzt; sie muss den Eindruck gewinnen, dass sie alles getan hat, was in ihren Kräften stand – und dass das eben nicht genug war! Wenn ein Kind „ins Heim muss“, dann hat allem Anschein nach nicht bloße der Klient – das Kind und seine Familie – „versagt“, sondern eben auch… die individuelle Sozialarbeiterin. Kein Wunder, dass sie „das Heim“ als Vorzimmer zur Hölle ansieht, wo es doch ein sicheres Mal ihres Scheitern ist! Das übrigens doppelt und dreifach, wenn die Heimeinweisung ein Befreiungsschlag ist, mit dem sie sich eine besonders ätzende Familie vom Halse  schafft: denn jetzt kommt zum Gefühl des Versagens auch noch das Schuldgefühl hinzu.

Das ist die erste Schwelle. Die Anlage der Akte ist die zweite: Eine zusätzliche Barriere ist die „psychosoziale Diagnose“. Denn wenn „das Heim“ als eine „äußerste Notmaßregel“ angesehen wird, dann muss der „Fall“ eben auch als ein „besonders schwerer“ dargestellt werden: einer, der „das Äußerste“ rechtfertigt. Es entsteht eine „Akte“, in der – so oder so – das Kind (und seine Familie) belastet wird – und damit sein ganzer künftiger Lebensweg.

Die Sozialarbeiterin wird in der Regel das Entstehen so eines „Vorgangs“ zu vermeiden suchen. Sie wird also sogar vermeiden, die Möglichkeit eines  Heimaufenthalts von Amts wegen überhaupt zur Sprache zu bringen. Der Standesdünkel der Schmalspurpsychiater beim Jugendgesundheitsdienst, die sich ihre ärztliche Machtvollkommenheit nur ungern von der Sozialarbeit einschränken lassen, tut ein Übriges.

Veröffentlichung der Lebensgeschichte – Enteignung des Privaten

Durch das gegenwärtig geltende, bürokratisch formalisierte „Heimunterbringungsverfahren“ wird etwas, das eigentlich nur ein Ereignis in der höchst privaten Lebensgeschichte des Einzelnen ist – dass er nämlich einstweilen dort wohnt und nicht hier -, aus der Sphäre des Individuellen und Zufälligen herausgehoben und auf einem staatlichen, einem öffentlichen Niveau fixiert: Es wird zu einem Faktum von höherer Geltung.

Dabei werden die Einzelnen – nicht nur das Kind, sondern mittelbar seine ganze Familie – von einem Teil ihrer künftigen Lebensführung enteignet: Denn während es leicht ist, in die „Vorgänge“ der Behörde hinein zu rutschen, ist es schwer, wieder raus zu kommen. So sehr sich die Sozialarbeiterinnen sträuben mögen, eine Heimeinweisung in Gang zu setzen, so sehr widerstrebt es ihnen nämlich auch, sie gegebenenfalls wieder… rückgängig zu machen! Kein Wunder: kämen doch andernfalls Zweifel auf, ob der „Fall“ seinerzeit wirklich so schlimm gewesen war, wie er zwecks Einweisung hatte dargestellt werden müssen…

Und so wird das, was eigentlich ein durchaus umkehrbarer Schlenker auf dem Lebensweg hätte bleiben können, nun tatsächlich zu einer ganzen Lebens-Epoche aufgeplustert, die nicht ohne Erlaubnis der Behörde abgeschlossen werden kann.

Nirgends wird die Crux der „hochschwelligen Angebote“ so deutlich wie hier: Ist die Eingangsschwelle hoch, so ist es in der Regel auch – die Ausgangsschwelle. Es reißt eine Dramatisierung in die sozialarbeiterliche Intervention ein, die sachlich gar nicht erwünscht sein kann – und die nur den „Sachzwängen“ eines bürokratischen Systems geschuldet sind.

Die Behörde als helfender Berater, oder der Bock als Gärtner

Wir sind beim Kernproblem öffentlicher Sozialarbeit angelangt. Kann einer, der mit den Prärogativen des öffentlichen Hoheitsträgers ausgestattet ist, auf die Dauer ernsthaft damit rechnen, zu seinem Klienten ein Verhältnis „helfender Beratung“ aufbauen zu können?

Vorab dies: Der Einwand, der an dieser Stelle unweigerlich fällt – dass nämlich fachliche Qualität dauerhaft eben nur durch öffentliche Kontrolle zu gewährleisten sei –, ist vollkommen richtig. Aber es ist eine – interessierte? – optische Täuschung, dass öffentliche Kontrolle eo ipso nur durch hoheitliches Verwaltungshandeln ausgeübt werden kann.

Und tatsächlich kontrolliert die Behörde die Arbeit der Sozialarbeiter nicht, indem sie deren Arbeitsergebnisse (ex post) bewertet – denn nach welchen Erfolgskriterien wohl auch? -; sondern sie legt die Latte höher durch eine Art präventiver Schikane „ex ante“, in der vagen Hoffnung, durch kleinkarierte Pedanterie en gros „Missbrauch“ en détail irgendwie abschrecken zu können. Folgerichtig wittert die Verwaltung bei allem „Niederschwelligen“ sogleich den Anfang von Chaos und Anarchie – von der Verschwendung von Steuergeldern gar nicht zu reden.

Und so liegt denn  die „Schwelle“ vor den Heimen – rein und raus – so hoch, dass von einem… „Angebot“ ehrlicherweise gar nicht mehr die Rede sein kann: Wenn ein Kind „ins Heim muss“, wird es von allen Beteiligten – Kind, Familie, Familienfürsorge – als ein Schicksalsschlag erlebt; wie eine Falle, die zuschnappt: als Endstation.

Punktueller Eingriff oder systemische Wechselwirkung

Der Hintergrund ist die unterschwellig fortdauernde Vorstellung von der Sozialarbeit als einer Art fürsorglichen Gnadenakts eines vormundschaftlichen Staats im individuellen Notfall: der Begriff der Intervention ist nur eine verschämte Latinisierung der alten Horch-und-Guck-Mentalität. So als ob einer, der es besser weiß – und besser kann -, sich in väterlicher Sorge seinem dummen und widerborstigen Kind „zuwendet“ – um es möglichst zu „behandeln“. Arzt, Pfaffe, Polizist: das sind die idealtypischen Charaktermasken von Opas, d. h. Omas Sozialarbeit gewesen.

Tatsächlich ist unterdessen das System der Sozialen Arbeit zu einer allgemeinen Bedingung des Heranwachsens geworden: so wie Schule, Kindergarten, Bafög, Elternfreibeträge… In unserer Gesellschaft ist Jugend-Sozialarbeit eine reguläre öffentliche Dienstleistung.

Der Grund liegt auf der Hand: Die öffentliche Sozialarbeit hat im wachsenden Maße jene Funktionen der sozialen „Sicherung“ wahrzunehmen, die einst die Familien ausübten und die mittlerweile vorherrschenden Torso-Familien nicht mehr ausüben können. Dieser Funktionsverlust der (klein)bürgerlichen Kleinfamilie ist nicht etwa eine bloße Summe von soundso viel je individuellem „Versagen“, sondern ein säkularer zivilisatorischer Prozess, den man vielleicht beklagen, aber nicht ignorieren kann.

Abstrakt gesprochen, handelt es sich um zwei Seiten desselben historischen Ereignisses: der zunehmenden Vergesellschaftung aller Lebensprozesse. Erstens folgt der (technischen) Vergesellschaftung der materiellen Produktion durch die große Industrie jetzt die Vergesellschaftung der Produktion und Reproduktion des lebendigen Arbeitsvermögens selbst; und durch die Mobilisierung des bürgerlichen Reichtums im Aktienkapital wird die Familie zweitens auch im Bürgertum obsolet: nämlich als Erbengemeinschaft. Sie ist nun nicht mehr der unverzichtbare Rahmen, in dem der Reichtum akkumuliert wird. Als société anonyme trägt das Kapital keinen Namen mehr.

Und darum ist die sogenannte „Jugendhilfe“ auch kein Stück Wohlfahrtspflege, sondern ein Teil der Gesellschaftspolitik.

Aber Verwaltung und Sozialarbeit haben notwendig eine je verschiedene Optik; wohlbemerkt nicht eine richtige und eine falsche, sondern, von wegen der unterschiedlichen Aufträge eben eine… verschiedene.

Hoheitliches (Verwaltungs-) Handeln ist notwendig linear. Die eine Seite, das hoheitliche Subjekt, handelt – und „wirkt“ auf die andre Seite, die zivile Gesellschaft, ein, als auf ein ihr gegenüber passives „Material“. Die Aktion ist einseitig.

Und im demokratischen Rechtsstaat muss das auch so sein, dort nämlich, wo (idealiter) „der Staat“ – als „das Allgemeine“ – die Vielen gegen die Einzelnen repräsentiert. Ließe der Hoheitsträger die Rückmeldungen, die sein Handeln aus der zivilen Gesellschaft jeweils erfährt, einfach auf sich „wirken“, dann müsste er immer und immer wieder sagen: „Ach, jetzt hab ich’s mir anders überlegt“, und dann wäre die Rechtssicherheit, und mit ihr die Einklagbarkeit allen hoheitlichen Handelns, zum Teufel.

Soziale Arbeit hingegen ist wesentlich Wechselwirkung, Interaktion vieler Kommunikanten: Sie ist vor allem Kommunikations-Zusammenhang. Sie findet nicht linear statt, sondern systemisch, als Wirken in einem Feld von vielen Wirkenden. Der Sozialarbeiter zielt mit seinem Handeln auf die Rückkoppelung mit seinen Klienten geradezu ab, um sein eigenes Handeln wiederum darauf einzustellen, und so fort; das ist sogar der ganze Zweck und Inhalt seiner Arbeit. Er zielt nicht, wie die „Maßnahmen“ des einzelnen Beamten, auf dieses oder jenes Resultat; sondern diesen Prozess selbst in Gang setzen, in Gang halten und auf seine „Richtung“ Einfluss nehmen – das ist seine Arbeit.

Und weil er in einem Feld arbeitet, wo außer ihm noch eine Menge andrer Kräfte wirken, kann er sich auch nicht einbilden, die „Richtung“ allein festzulegen: Seine Arbeit ist nie ‘ganz oder gar nicht’, sondern immer nur ‘mehr oder weniger’. Darum ist sein Erfolg naturgemäß auch nicht messbar: jedenfalls nicht am „einzelnen Fall“, und nie zum gegebenen Zeitpunkt. Sein Erfolg ist immer ein Mehr oder Weniger im Querschnitt und im Längsschnitt.

Und darum ist Sozialarbeit auch gar nicht zu bewerten nach der Leistung dieses oder jenes (einzelnen) Sozialarbeiters hier und jetzt, sondern an der Leistungskraft des Systems der Sozialarbeit im Großen und Ganzen.

Eine öffentliche Dienstleistung in einem System gesellschaftlicher Selbstregulierung

Sozialarbeit und Verwaltung folgen zwei grundsätzlich verschiedenen und grundsätzlich unvereinbaren Logiken. Werden sie vermengt, kann weder die eine noch die andere ihre Aufgaben wirksam wahrnehmen. Im Ergebnis: Die verwaltungsmäßige Sozialarbeit ist ziemlich ineffektiv, und zugleich vergeudet sie eine Menge Steuergelder…

Die Aufgabe liegt auf der Hand: Sozialarbeit und Verwaltung entmischen. Also z.B. die Familienfürsorge nicht bloß aus den Rathäusern, sondern aus dem öffentlichen Dienst überhaupt herausholen. Bleibt nur die Frage: wie dann die professionelle Qualität der Sozialarbeit garantieren?

Sobald sie einmal der staatlichen Aufsicht entronnen sind – wird sich das machtbewusste und besitzfrohe Völkchen der Sozialarbeiter nicht über die gesamte Oberfläche der Gesellschaft ergießen, in alle ihre Poren eindringen und das Land als eine allgemeine psychosoziale Gesundheitspolizei einer zudringliche Standesherrschaft unterwerfen?

Sicher ist: Öffentliche Kontrolle ist unverzichtbar, und wirksamer als heute kann sie auch ruhig sein. Aber öffentlich heißt eben nicht gleich staatlich.

Der erste Teil der Aufgabe: die „klinische“ Sozialarbeit, also alles, was „helfende Beratung“ ist, von den – wenigen – wirklich hoheitlichen Funktionen der Familienfürsorge trennen und aus den Ämtern heraus verlagern in die Wohnviertel hinein, etwa in Form von Zweier- oder Vierergruppen von Streetworkern. Zu diesem Zweck könnten zum Beispiel die Gebietsvertretungskörperschaften privatrechtliche Vereine gründen, die die bisherigen „klinischen“ Aufgaben der Familienfürsorge fortführen, aber ansonsten ein Freier Träger unter anderen wären.

Aber sicher, das gibt Probleme mit dem Dienstrecht. Aber unlösbar sind sie nicht. Schließlich gibt es Beispiele im In- und Ausland. Und es geht selbstverständlich nur auf der Basis von Freiwilligkeit: na, umso besser.

Der zweite Teil der Aufgabe ist – zumindest im Prinzip – viel schwieriger. Die öffentliche Kontrolle soll fachlich qualifiziert sein und nicht bürokratisch formalisiert. Wer aber ist fachlich qualifiziert zur Kontrolle, wenn nicht… die Fachwelt selbst? Dazu muss sie freilich ihre feudale Fragmentierung überwinden – und sich selbst zur Öffentlichkeit bilden. Es kann sich also nur um eine berufsständische Selbstkontrolle handeln. Und die kann nur effektiv sein, wenn sie obligatorisch ist: Das verlangt Zwangsmitgliedschaft aller, die öffentliche Zuwendungen in Anspruch nehmen wollen, in einer repräsentativen Standesvertretung. Also eine öffentlich-rechtliche Kammer.

Ärzte, Anwälte, selbst Industrie und Handel haben solche Kammern. Allerdings – und das ist ein wesentlicher Unterschied – kassieren sie bei ihren Kunden, direkt oder (per Krankenschein) indirekt. Qualitätsmerkmal ist die Zufriedenheit der Nachfrager, sie reguliert früher oder später das Angebot. Aber die Sozialarbeit lebt naturgemäß – sonst hieße sie nicht „sozial“ – von der Staatsknete. Sicher darf die Standesvertretung nicht selber die Vergabe öffentlicher Mittel präjudizieren können – sonst wären, beim bekannten Appetit der „Betroffenen“, die Kassen bald leer.

Aber es bedarf einer gegenseitigen institutionellen Repräsentation von staatlicher Hoheit und fachlicher Kompetenz. Und tatsächlich gibt es ein solches gegenseitiges Vertretungsorgan, in dem die Soziale Arbeit als Berufsstand öffentlich-rechtlich anerkannt ist: nämlich die bisherigen Jugendwohlfahrtsausschüsse, in denen den Freien Trägern eine bestimmte Quote gesetzlich garantiert ist.

Nun wäre ein weiterer Schritt fällig. Während nämlich bislang die Vertreter der freien Sozialarbeit (einvernehmlich) von der staatlichen Seite – den Vertretungskörperschaften – ausgewählt werden, müsste die Standesorganisation der Sozialarbeiter – nennen wir sie mal Jugendhilfetag – dann ihr Vertreter selber wählen können. Dazu müsste sie aber erstmal in sich selber repräsentativ verfasst sein – und das heißt paritätisch (was die Fünferbande der großen Wohlfahrtskonzerne nicht gerne hören wird). Über die genaue Definition der rechtlichen und fiskalischen Kompetenzen dieses neuen Kinder- und Jugendhilfeausschusses lassen sich später noch genug Haare spalten.

An dieser Stelle ist nur eins festzuhalten: Die Berufsvertretung der der Sozialarbeiter hat nicht selber in die Kasse zu greifen, sondern sie hat vielmehr der Politik die fachlichen Parameter zu liefern, nach denen jene „verteilt“. Der Unterschied zu heute wäre beträchtlich: Die Parameter sind dann sachlich qualifiziert, weil und insofern sie aus einer repräsentativen Quelle stammen.

Ein tiefer Schnitt

Soll das System der Jugend-Sozialarbeit nicht an Herzverfettung kollabieren, dann muss die Spirale von Spezialisierung und Bürokratisierung jetzt zerbrochen werden. In die soziale Arbeit müssen Unternehmungsgeist und Eigenverantwortung einkehren. Quacksalberei am Detail hilft nichts. Es muss ein tiefer Schnitt getan, es muss das Ruder herumgeworfen, es muss – neu angefangen werden.

Es ist absurd, dass ein Kind und seine Familie einem „helfenden Berater“ Zutritt zu ihrem Privatleben gewähren sollen, der zuvor der Hoheit und ihrem Fiskus seine besondere Treue gelobt hat. Und es ist absurd, dass ein Beruf, der wie kein anderer vom persönlichen Einsatz lebt, ausgerechnet in einem Apparat ausgeübt wird, dessen Raison d’être dies ist, dass er individuelle Entscheidungen zu unpersönlichen „Vorgängen“ versachlicht und objektiviert.

Über die Einzelheiten zu streiten wird noch reichlich Gelegenheit sein. Das Kammer-Modell hat sicher auch seine Tücken; und ob die Jugendwohlfahrtsausschüsse überhaupt wiederbelebungsfähig sind, mag bezweifelt werden. Aber an der Richtung kann es keinen Zweifel mehr geben. Der hier vorgetragene Plan hat den unbequemen Vorzug, gänzlich machbar zu sein – und sogar schon auf der bloßen Länderebene.

Wer diesen Weg nicht gehen will, muss sagen, welchen sonst – oder sich aus der Sache raushalten. Denn bloßes Drumrumreden geht nun jedenfalls nicht mehr.

Eine Diskussion

•Oktober 23, 2008 • 11 Kommentare

Aus: About this blog – Jochen Ebmeier’s Weblog

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„Das Schönste, das wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht.“

Albert Einstein

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  1. rotegraefin sagte:
    September 13, 2008 um 11:26 Uhr vormittags eDem Zitat kann ich unumwunden zu stimmen.
    Dem der es ausgesprochen hat, nicht mehr. Es hat seine erste Frau schnöde sitzen gelassen und ihre Liebe verraten.
    Ich habe darüber eine gute Sendung im WDR3 gehört.
  2. ebmeierjochen sagte:
    September 13, 2008 um 1:19 Uhr nachmittags eIch unterscheide allerdings zwischen Wissenschaft und Biographie. Das Private ist, anderslautenden Parolen zum Trotz, nicht ‘politisch’.
  3. rotegraefin sagte:
    Oktober 20, 2008 um 10:32 Uhr vormittags eDa sind wir unterschiedlicher Meinung.
    “Die Hand die Wiege hält, regiert die Welt.”
    und
    “Wer ein Menschenleben rettet, rettet eine ganze Welt.”
    und
    “36 Gerechte sollen die Welt erhalten.”
    und
    “Es gibt nichts gutes außer man tut es.”
    und
    “Der Mensch steht im Mittelpunkt und damit allen im Wege.”
  4. ebmeierjochen sagte:
    Oktober 20, 2008 um 8:41 Uhr nachmittags eDie Moral gebietet, was ich mir selber schuldig bin.

    Was ich Anderen schuldig bin – und sie mir -, gebietet das Recht; nicht unbedingt die Buchstaben der Gesetze, aber doch deren Prinzip.

    Das eine betrifft die Privatperson und geht mich nichts an, da ich zu seinem privaten Kreis nicht gehöre. Das andere betrifft die öffentliche Person, und zu der allein ist mir ein Urteil erlaubt.

  5. rotegraefin sagte:
    Oktober 21, 2008 um 10:48 Uhr vormittags eDas ist eine Logik, die Du da aufzeigst, in der liegt jede Gestörtheit und Ungerechtigkeit verborgen und hat darin ihre Ursache. Leider!

    Solange wir Richter haben die tatsächlich behaupten Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei, solange werden wir in einer gestörten Welt leben.
    Ab dem Moment wo diese Spaltung aufgehoben wird, als reines Gedankenkonstrukt, zu dem nichts führt außer in den Wahnsinn. Sind wir wieder bei der realen Gerechtigkeit angkommen.

  6. ebmeierjochen sagte:
    Oktober 21, 2008 um 3:01 Uhr nachmittags eÜber das, was Recht und was gerecht ist, muss man sich mit andern einigen – nämlich darüber, was für alle verbindlich werden soll. Das wird nie ein für alle Mal geschehen, denn in die Fragen nach Recht und Gerechtigkeit spielen immer die Einzeleinteressen hinein, und die sind nunmal verschieden. Nie werden Alle das jeweils geltende Recht für gerecht halten.

    Was Du für gut und anständig hältst, darüber musst du Dich mit niemandem verständigen, das musst und kannst Du ganz allein entscheiden.

  7. rotegraefin sagte:
    Oktober 21, 2008 um 8:58 Uhr nachmittags eGrrrrrrrrrrrr! Wie dieses Argument hasse!
    “Was Du für gut und anständig hältst, darüber musst du Dich mit niemandem verständigen, das musst und kannst Du ganz allein entscheiden.”

    Das ist eben nicht in meine alleinige Entscheidung gegeben. Wenn mir von Beginn meines Lebens an Unrecht geschehen ist. Treffe ich im teuflischen Wiederholungszwang immer wieder auf Menschen, die genau diesen Unsinn behaupten.

    Ich habe z.B. meine Wohnung verloren, weil ich zu laut geweint und gehustet habe. Ich wurde allerdings als Säugling von meiner Mutter in den kaputten Teil des Hauses geschoben, weil ich zuviel weinte und sie dieses Weinen nicht aushalten konnte. Beide Verhaltensweisen entsprechen einer enormen psychischen Dummheit und seelischer Grausamkeit. Haben aber politische Folgen und Entsprechungen. Der Gefühllose pocht mit unerbittlicher Härte auf sein Recht Gefühllos bleiben zu dürfen.
    Wie wir mit Gefühlen und deren Ausdruck umgehen hat schon seine Entsprechung in unserer Gesellschaft und anscheinend scheine ich damit ziemlich allein da zustehen diesen Zusammenhang überhaupt zu sehen und aus zusprechen.

  8. ebmeierjochen sagte:
    Oktober 21, 2008 um 9:17 Uhr nachmittags eNa, dann will ich mal richtig deutlich werden: Du hast auf jemandes andern Gefühle schlicht und einfach keinen Anspruch. Die sind seine Sache, so wie Deine Gefühle Deine Sache sind; zum Beispiel, was Du hasst und was Dir lieb ist.

    Keiner studiert Psychologie, der’s nicht nötig hat, lautet ein Spruch von Psychologieprofessoren. Wenn einer Sozialarbeiter wird – oder auch nur bleibt, wie ich -, wird sicher auch immer eine Menge Privates mit hineinspielen. Aber wer diesen Beruf geradezu wählt, weil er hofft, indem er andern hilft, werden die ihm helfen, der ist wie ein Verdurstender, der Meerwasser trinkt. Es kann nicht ausbleiben, dass er enttäuscht wird. Aber er hat’s selber drauf angelegt.

    Und rede Dir nicht ein, Du stündest damit allein da. In diesem Beruf wimmelt es von Menschen, die Deiner Meinung sind. Ich verstehe nicht, wieso Du mit denen so schlecht auskommst. Es liegt doch nicht etwa daran, dass jeder meint, seine Gefühle wären berechtigt, aber die des andern nicht?

  9. rotegraefin sagte:
    Oktober 21, 2008 um 11:43 Uhr nachmittags eAber hallo genau daran liegt es.

    Wir leben zur Zeit, in der Einbildung die eigene Sicht der Dinge und damit auch die eigenen Gefühle bzw. Wertung der eigenen Sicht seinen absolut richtig.

    Wer in diesem richtig und falsch System stecken bleibt, bei mir verbunden mit der Einbildung dringend im Kontakt mit Menschen bleiben zu wollen/zu müssen, weil mir die Überheblichkeit der “Erleuchtenden” einfach auf den Wecker fällt, bleibt ein nützlicher Idiot.

    “Du hast auf jemandes andern Gefühle schlicht und einfach keinen Anspruch.”

    So ähnlich habe ich das mal einer Jugendlichen gesagt, die vor mir verzweifelt saß und behauptete, es wäre die Pflicht von Eltern ihre Kinder zu lieben. Damals habe ich etwas ähnliches behauptet wie Du heute noch. Es gibt keine Pflicht zu lieben.
    Aber es gibt noch viele andere Gefühle wie Hass, Angst, Neid, Trauer, Schmerz, Freude, Spaß, Glück etc. die mir geschenkt werden und die ich erlebe.

    Darauf erhebe ich einen Anspruch, dass die Menschen wieder lernen damit redlich umzugehen.

    Aber was sagst Du mir jetzt auch noch implizit. Dass es richtig war, von meiner Mutter mich wegzuschieben und dass es richtig war, dass mir die Wohnung gekündigt wurde. Dass der Richter auch Recht hat, der sagt: “Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei.”?

    Mit dieser Haltung findest Du Dich in guter Gemeinschaft vieler Intellektueller und Verwaltungsfachleute vor allen Dingen vieler Männer obwohl mittlerweile schon viele Frauen hinzugekommen sind.

    Jetzt sind wir an dem Scheidepunkt angelangt an dem ich regelmäßig dann eine Trennung und Ablehnung von den Personen erlebt habe, mit denen ich zu tun hatte.

    Es kommt jetzt darauf an, ob Du Dir den Widerstand ansehen kannst, der offensichtlich fast automatisch auftaucht, wenn es lediglich “nur” um Empathie geht, die sich eben nur über Gefühle entwickeln lässt. Bei dem dann der Intellekt die Aufgabe anschließend wieder übernehmen kann, das Erlebte und Erfahrene in Worte zu fassen.
    Selbstverständlich hast Du ein Recht Dich vor einer Gefühlsüberschwemmung zu schützen. Aber nimm bitte zur Kenntnis, dass ich seit dem ich hier intensiver zu schreiben begonnen habe, ich von Herzschmerzen geplagt werde, die ich aus meiner Zeit mit der Freundschaft zu einem Mann kenne, der unfähig war zu seinen Gefühlen zu stehen.
    Ich habe meinen Vater und meine Brüder zu sehr geliebt, als dass ich nicht immer wieder versuchen würde dieses tödliche Denken aufzuzeigen, Gefühle dürften nicht sein, um mehr Raum für Lebendigkeit und Gerechtigkeit zu schaffen, die die Voraussetzung für eine friedliche Welt sind.
    Von Menschen immer wieder allein gelassen zu sein brauche ich mir nicht einzureden. Es ist eine Tatsache, die ich immer wieder mit neuem Erstaunen und verwundertem Entsetzen wahrnehme und akzeptieren lerne. Dies hat mich bescheiden werden lassen und dankbar für so wertvolle Begegnungen wie mit Dir. Obwohl auch hier schon gerade der Abschied eingeläutet wurde. Ich komme ganz einfach nur schwer mit soviel seelischer Grausamkeit zu recht, wie Du sie hier gerade ausdrückst, die mir aber so vertraut ist, dass ich jetzt erst einmal meine Zeit gebrauchen muss, um nicht in der Angst vor der Hoffnungslosigkeit zu versinken, sondern mich mal wieder am Schopfe der Vernunft packen kann und mir sagen kann, das ist einfach nur schlimm und das hast Du schon oft erlebt und wirst es auch wieder überleben, nur schade hier schien sich gerade etwas sehr Schönes und Wertvolles zu entwickeln.

    Selbstverständlich habe ich keinen Anspruch auf eine dauerhafte und festgeklopfte liebende Zuwendung? Aber habe ich das verlangt? Hast Du das verstanden?
    Ich glaube, dass ganz viele ungelöste Konflikte mit der Tatsache zu tun haben, dass wir noch nicht gelernt haben mit unseren Gefühlen konstruktiv um zu gehen, sondern sie lieber verdrängen, verschieben oder projizieren.

    “Aber wer diesen Beruf geradezu wählt, weil er hofft, indem er andern hilft, werden die ihm helfen, der ist wie ein Verdurstender, der Meerwasser trinkt.”
    Stimmt trifft wohl auf mich zu. Ich habe an die goldene Regel geglaubt. Aber auch dort wo ich ausdrücklich selber um Hilfe gebeten habe, sah ich mich über kurz oder lang wieder in die Helferrolle gedrängt. Ein Teufelskreis aus dem früh, um ihr ursprüngliches Gefühl beraubte nur sehr schlecht heraus kommen, wie sich hier auch mal wiederholt zeigt.

  10. ebmeierjochen sagte:
    Oktober 22, 2008 um 4:18 Uhr nachmittags eLiebe rote Gräfin, wir sind hier im Internet; das hast du vergessen. Du und ich, wir sind hier nur virtuell. Wir kennen uns gar nicht. Du weißt nicht einmal, ob es mich wirklich gibt, oder ob ich nur ein Fake bin. Du wirst doch nicht im Ernst von dem elektronischen Ding da vor Dir erwarten, dass es “authentische Gefühle” wiedergibt, mit denen Du empathieren kannst!

    All die Ansprüche, die Du hier eben angemeldet hast, die kannst Du in Deinem persönlichen Umfeld geltend machen, bei den Leuten, die Du kennst und die Dich kennen. Aber das hier ist DIE ÖFFENTLICHKEIT – und, wie gesagt, eine virtuelle obendrein. Willst Du auch hier ‘keine Unterschiede machen’?

    Du hättest gar nichts davon, wenn ich Dir hier Balsam in die Tasten tippte; denn Du weißt ja nicht, ob ich echt bin. Und wenn ich es wäre – ich bin ja doch nur ein @! Ich meinerseits hätte schon gar nichts davon – privat nicht, als Sozialarbeiter nicht und als Blogger schon gar nicht.

  11. rotegraefin sagte:
    Oktober 22, 2008 um 9:32 Uhr nachmittags eLieber ebmeierjochen,

    nee wer hätte das gedacht, das wir hier im Internet sind. Ich hab gedacht wir befinden uns auf einem Adelsschwof im Friedenssaal in Münster. ;)
    Manna Mia, jetzt sorgst Du aber für eine Enttäuschung nach der anderen. Bin mal echt gespannt wieviele Du noch auf Lager hast. Bei Deiner Intelligenz schätze ich mal so 100 000.

    Möchtest Du Dich nicht hier http://brightsblog.wordpress.com/ in die Diskussionen mit ein klinken die schwafeln da auch so ein abstruses Zeug, wie Du da gerade oben.

    Da ich alles verloren habe und folglich nur noch gewinnen kann. Schreibe ich hier. Da Du ja offensichtlich selber nicht weißt wer Du bist ein Fake oder wer oder was auch immer hast halt Pech gehabt. Anscheinend bist Du noch durchgeknallter als meine einzigste Schwester, die sagte mir mal: “Du , du bist nicht meine Schwester. Ich hätte gerne eine Schwester, aber du, du bist nicht meine Schwester. Die Blumen, die ich dir mitgebracht habe, die habe ich nicht dir mitgebracht, die habe ich meiner Schwester mitgebracht.” Alles klar? Haste alles verstanden? Wenn nicht dann noch mal lesen.

    Oder schön war auch der Psychologe, der mir Supervision geben wollte und als ich ihm einen gut reflektierten Bericht geschrieben hatte beendete er die qualvollen Sitzungen mit den Worten: “Sie haben mich zum Verfolger gemacht.”

    Also ich bedanke mich recht herzlich dafür, dass Du weißt wovon ich etwas habe. “Wer nicht will der hat schon.”
    Okay Du hegst die die idiotische Idee, Unrecht übersehen zu müssen. Ich hoffe Du machst Dir damit klar, dass Du damit “ein nützlicher Idiot” für die Erhaltung der bestehenden Verhältnisse bist, die immer mehr gestörte Menschen produziert.